Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Leben .  Medizin und Gesundheit 
 
Die neue Unübersichtlichkeit in der Stammzell-Politik
Neue Vorstöße und Konflikte vor dem Ablauf des EU-Moratoriums
 
  Geht es nach Bundesministerin Gehrer, soll es auch weiterhin kein Geld aus Brüssel für Forschung an embryonalen Stammzellen geben. Bislang sind Deutschland und Italien ihre Bundesgenossen. In Deutschland ist die Diskussion um die embryonalen Stammzellen freilich gerade neu entbrannt.  
Ende des Burgfriedens
Mit dem politischen Burgfrieden in der deutschen Stammzell-Politik scheint es vorbei zu sein. Nach einer monatelangen und heftigen bioethischen Debatte verabschiedete der deutsche Bundestag 2002 ein Gesetz, das die Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen regelt.

Diese bleibt weitgehend verboten. Unter Einhaltung strenger Auflagen darf aber an importierten Stammzell-Linien geforscht werden. Eine Bedingung lautet unter anderem, dass die importierten Stammzell-Linien nicht nach dem 31.1.2002 hergestellt worden sein dürfen. Diese Stichtagsregelung soll ausschließen, dass für Stammzellforschung in Deutschland weitere Embryonen vernichtet werden.

Das Gesetz war ein politischer Kompromiss. Weder für eine weitergehende Liberalisierung noch für ein völliges Verbot der Forschung an embryonalen Stammzellen fand sich eine Mehrheit im Bundestag. So heftig im Vorfeld der Beschlussfassung öffentlich debattiert wurde, so rasch ebbte die bioethische Diskussion nach Inkrafttreten des Gesetzes ab.
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Kurswechsel in der deutschen Biopolitik?
Jetzt aber sorgt eine Rede für Aufregung, die die deutsche Bundesjustizministerin Zypries am vergangenen Mittwoch an der Humboldt-Universität zu Berlin gehalten hat. Darin rückt sie deutlich von der Position ihrer Amtsvorgängerin Däubler-Gmelin ab. Die Kernaussagen von Frau Zypries: Aus dem deutschen Grundgesetz ergebe sich keineswegs zwingend, dass bereits Embryonen im Reagenzglas Menschenwürde zukomme, sondern lediglich ein abgestuftes Recht auf Leben. Zwar sei der menschliche Embryo auch außerhalb des Mutterleibes "kein beliebiger Zellhaufen, über den Eltern, Mediziner und Forscher nach Gutdünken verfügen könnten". Der Schutz des Lebens von Embryonen könne aber im Einzelfall gegen andere Rechtsgüter abgewogen werden. Hier gebe es einigen "Spielraum".
->   Die Rede der deutschen Justizministerin im Wortlaut
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Heftige Reaktionen: Kritik und Zustimmung
Auch wenn sich die Ministerin gegen eine rasche Änderung des deutschen Stammzellforschungsgesetzes und deutlich gegen die Präimplantationsdiagnostik (PID) ausgesprochen hat, wird ihre Rede als biopolitischer Kurswechsel der deutschen Bundesregierung bewertet.

Entsprechend heftig sind die Reaktionen auf die Rede von Frau Zypries ausgefallen. Scharfe Kritik kommt von den Kirchen, z.B. vom scheidenden Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Präses Manfred Kock. Aber auch der Präsident der Deutschen Bundestages Wolfgang Thierse kritisiert die Justizministerin.

Zustimmung kommt dagegen nicht nur vom deutschen Bundeskanzler, sondern verständlicherweise auch von Seiten der Forschung. Professor Detlef Ganten, Stiftungsvorstand des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in Berlin und Mitglied des Nationalen Ethikrates ist, regt z.B. die Schaffung einer europäischen Stammzell-Bank ein. Schon länger wird kritisiert, dass die deutsche Stichtagsregelung auf die Dauer nicht halten könne, da die zugelassenen Stammzell-Linien irgendwann erschöpft und außerdem nur von begrenzter Qualität seien.

Die deutsche Justizministerin spricht sich allerdings dafür aus, zunächst alle Möglichkeiten des Stammzellimports auszuschöpfen. Erst wenn entsprechende Forschungsergebnisse vorlägen, könne geprüft werden, ob eine Gesetzesnovelle tatsächlich erforderlich sei.

Allerdings - und darin liegt die politische Sprengkraft der Ministerrede - sei eine Lockerung der gesetzlichen Bestimmungen zur Forschung an embryonalen Stammzellen durch die deutsche Verfassung nicht ausgeschlossen.
EU-Moratorium mit Ablaufdatum
Die Vorgänge in Deutschland sind unter anderem deshalb auch für Österreich interessant, weil unser Nachbarland bislang neben Österreich und Italien als Bündnisgenosse im politischen Tauziehen um eine Verlängerung des EU-Moratoriums aufgetreten ist, das Österreich im Streit um das 6. Rahmenprogramm der EU zur Forschungsförderung 2002-2006 durchsetzen konnte.

Aufgrund dieses Moratoriums ist die Förderung von Forschungen an menschlichen embryonalen Stammzellen bis Ende 2003 ausgesetzt. In den nächsten Wochen fällt die Entscheidung, ob das Moratorium fortgesetzt wird oder nicht.

Die deutschen Motive in der europäischen Stammzell-Politik unterscheiden sich allerdings von denjenigen Österreichs. Namentlich die für Wissenschaft zuständige Bundesministerin Gehrer lehnt die Forschung an embryonalen Stammzellen aus grundsätzlichen Erwägungen ab.

Sie argumentiert, dass in vitro gezeugte Embryonen bereits als Menschen im Vollsinn des Wortes anzusehen sind und darum uneingeschränkte Menschenwürde besitzen. Sie setzt ganz auf die Forschung an adulten Stammzellen und anderen, ethisch unbedenklichen Zelltypen.
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Ungereimtheiten in der Österreichischen Stammzell-Politik
Die österreichische Position tut sich allerdings insofern schwer, als zumindest der Import von embryonalen Stammzell-Linien nach Österreich gesetzlich nicht verboten ist. Auch ist der Embryonenschutz in Österreich verfassungsrechtlich weitaus unsicherer als z.B. in Deutschland.

Österreichs Biopolitik ist voller Ungereimtheiten, wenn einerseits auf europäischer Ebene gegen die Forschung an embryonalen Stammzellen gestritten wird und andererseits Kompromissvorschläge wie derjenige der EU-Kommission vom Sommer 2003, die strenge Zulassungsregeln und eine Stichtagslösung vorsehen, abgelehnt werden, zugleich aber in Österreich weder ein gesetzliches Forschungsverbot noch alternativ ein Stammzellforschungsgesetz auf den Weg gebracht wird.
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Kompromissvorschläge
Die EU-Kommission hatte vor einigen Monaten einen Kriterienkatalog für die Forschung an embryonalen Stammzellen vorgeschlagen, der unter anderem vorsieht, dass nur Embryonen, die vor dem 27. Juni 2002 gezeugt worden sind, zur Herstellung neuer Stammzell-Linien freigegeben werden.

Außerdem müsse es sich um so genannte überzählige Embryonen handeln, die bei der In-vitro-Fertilisation anfallen, und die betroffenen Frauen müssten der Freigabe für die Forschung ausdrücklich zugestimmt haben.
->   EU-Kommission: Embryonenforschung soll - eingeschränkt - erlaubt werden (9.7.03)
Ähnlich: Vorschlag der Bioethikkommission
Der vorgeschlagene Kompromiss entspricht im Wesentlichen dem Vorschlag, den die Mehrheit der österreichischen Bioethikkommission bereits im Frühjahr 2002 gemacht hat.

So hat auch der gerade in seinem Amt bestätigte Vorsitzende der Bioethikkommission, Professor Johannes Huber, den Vorschlag aus Brüssel grundsätzlich begrüßt. Bundesministerin Gehrer hält jedoch an ihrem Kurs unverändert fest und scheint zu keinem politischen Kompromiss bereit.
->   Gehrer: EU-Moratorium für Stammzellen verlängern (22.9.03)
Die Stimmen Österreichs, Deutschlands und Italiens werden allerdings nicht ausreichen, um eine Fortsetzung des EU-Moratoriums zu erreichen. Alle Hoffnungen richten sich auf Portugal als weiteren mögliche Mitstreiter. Die portugiesische Bioethikkommission spricht sich jedoch grundsätzlich für die Forschung an embryonalen Stammzellen aus
Gründe für Deutschlands Nein
Auch Deutschlands Nein zum Brüsseler Kompromissvorschlag muss man sich genauer anschauen. Es wird nämlich, trotz einer starken verfassungsrechtlichen Verankerung des Embryonenschutzes, nicht in derselben dogmatischen Weise wie das Nein aus Österreich begründet, sondern mit dem Hinweise auf die deutsche Gesetzeslage.

Die von der EU-Kommission vorgeschlagene Stichtagsregelung - 27.6.2002 - würde der deutschen Stichtagsregelung - 31.1.2002 - und damit geltendem nationalen Recht widersprechen. Die aber - und damit schließt sich der Kreis zur oben erwähnten Rede der deutschen Justizministerin - muss schließlich nicht für alle Ewigkeit gelten.
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Vorstoß des EU-Parlaments
Neue Bewegung kommt in die verwickelte Debatte auch durch einen Vorstoß des EU-Parlaments. Auch wenn dieses kein Mitentscheidungsrecht hat, hat die jüngste biopolitische Entwicklung im EU-Parlament einige Signalwirkung. Noch im November will das Parlament über einen Vorschlag des deutschen EVP-Abgeordneten Peter Liese (CDU) abstimmen, der als Berichterstatter des Forschungsausschusses eine Kompromissregelung nach US-amerikanischem Vorbild, d.h. auch mit einer Stichtagsregelung empfiehlt. Sein Vorstoß ist auch deshalb bemerkenswert, weil Liese eigentlich zu den entschiedenen Gegnern der Forschung an embryonalen Stammzellen gehört.
->   EU-Parlament: Für die Stammzellforschung? (22.10.03)
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Liberale Positionen in der EU
Sollten derartige Kompromissvorschläge weiter abgelehnt werden und gleichzeitig der Versuch scheitern, das bestehende und ohnehin löcherige EU-Moratorium zu verlängern, wäre das aus biopolitischer wie aus ethischer Sicht die denkbar schlechteste Lösung.

Schließlich sollten die Gegner jeder Forschung an embryonalen Stammzellen nicht übersehen, dass andere EU-Mitgliedstaaten wie Schweden oder Großbritannien eine weit liberalere Forschungsförderung anstreben, die über die auf dem Verhandlungstisch liegenden Kompromissvorschläge oder auch über den mehrheitlichen Vorschlag der österreichischen Bioethikkommission hinausgeht.
Bioethische Kernfragen
Im Kern dreht sich die biopolitische Auseinandersetzung auch weiterhin um die Frage, ob die Forschung an humanen embryonalen Stammzellen aus ethischen und menschenrechtlichen Gründen prinzipiell abzulehnen ist oder nicht.

Eine Einigung in dieser Frage ist weder auf nationalstaatlicher noch auf gesamteuropäischer Ebene in Sicht. Politische Kompromisse, das zeigt die Entwicklung der vergangenen Wochen und Monate, sind unvermeidlich, wenn man nicht der Ansicht ist, die ethisch umstrittene Forschung an embryonalen Stammzellen sei ohnehin wissenschaftlich überflüssig.
Zurückhaltung beim Thema Stammzell-Forschung
Für die zuletzt genannte Annahme spricht allerdings wenig. In dieser Hinsicht muss man sagen, dass sich die österreichische Wissenschaftsministerin in der Vergangenheit allzu einseitig informiert und geäußert hat.

Ihrer Haltung kommt freilich auch entgegen, dass österreichische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Öffentlichkeit bislang große Zurückhaltung geübt haben, wenn es um das Thema embryonale Stammzellen ging. Aus der Tatsache, dass in Österreich noch keine entsprechenden Forschungsvorhaben bekannt geworden sind, sollte man aber keine falschen Schlüsse über die Sinnhaftigkeit oder Nutzlosigkeit derartiger Projekte ziehen.
->   Ulrich Körtner: Was ist ein Embryo? (2.7.03)
Österreich darf die Augen nicht verschließen
Österreich kann und darf vor der internationalen Entwicklung die Augen nicht verschließen. Ein kategorisches Nein zur Forschung an embryonalen Stammzellen, an dem Bundesministerin Gehrer festhalten möchte, verdient Respekt, ist aber, schon allein weil es der österreichischen Rechtslage nicht entspricht, auf die Dauer keine verantwortungsvolle Politik.

Themen wie ein Embryonenschutzgesetz, das auch die Frage der Forschung an embryonalen Stammzellen regelt, stehen nach wie vor unerledigt auf der biopolitischen Tagesordnung.
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Europäische Stammzell-Bank?
Nur am Rande sei vermerkt, dass auch der oben erwähnte Vorschlag von Detlef Ganten, eine europäischen Stammzell-Bank zu errichten, einiges für sich hat. Auf diese Weise ließen sich nämlich Herkunft und Qualität von Stammzell-Linien in der Weise sicherstellen, wie dies vom Mehrheitsvotum der österreichischen Bioethikkommission gefordert wird. Voraussetzung ist freilich, dass nicht nur über den Import, sondern auch über die eigene, wenngleich zu begrenzende Herstellung von Stammzell-Linien aus überzähligen Embryonen offen diskutiert wird, wie dies z.B. in der Schweiz geschieht. Auch dies zeigt, dass in puncto Forschung an embryonalen Stammzellen noch manche Fragen offen sind.
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Neuer Schwung für Österreich
Am Mittwoch trifft sich die Bioethikkommission des Bundeskanzlers, deren Mitglieder soeben bestätigt wurden, zur ersten Sitzung ihrer zweiten Funktionsperiode.

Die Einsetzung einer nationalen Bioethikkommission im Sommer 2001 hatte zwar eine politische Signalwirkung. Nach wie vor werden Bioethik und Biopolitik in Österreich jedoch eher stiefmütterlich behandelt. Die großen Linien einer konsistenten Biopolitik sind bislang nicht erkennbar geworden. Das öffentliche Interesse an bioethischen Fragen ist weithin erlahmt und beschränkt sich zumeist auf die Kreise wertkonservativer Bedenkenträger.

Es bleibt zu hoffen, dass sich künftig auch andere Stimmen wieder vernehmbarer zu Wort melden. Die bioethische Diskussion in Österreich braucht jedenfalls neuen Schwung.
->   Sämtliche Beiträge von Ulrich Körtner in science.ORF.at
 
 
 
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