Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Leben .  Medizin und Gesundheit 
 
PID im Kreuzfeuer: Zeugung auf Probe?  
  Anders als in den meisten EU-Staaten, darunter auch Großbritannien, ist die Präimplantationsdiagnostik (PID) in Österreich bislang verboten. Mit Hilfe der PID lässt sich die Weitergabe schwerer Erbkrankheiten verhindern. Dazu müssen aber Embryonen im Reagenzglas gewissermaßen "auf Probe" gezeugt, getestet und selektiert werden.  
Kritiker verurteilen die PID als neue Form der Eugenik, die in der Gesellschaft ein behindertenfeindliches Klima fördert. ExpertInnen aus Großbritannien und Österreich diskutieren über Pro und Contra der Präimplantationsdiagnostik (PID) am Dienstag in Wien.
...
"Die Guten ins Töpfchen ...?"
Die Argumente Pro und Contra PID sind Thema eines Cafe Scientifique, das am Rande einer ExpertInnen-Konferenz aus Anlass des "Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderungen" stattfindet: "Die Guten ins Töpfchen ...? - Präimplantationsdiagnostik, Selektion und das soziale Modell der Behinderung".

Dienstag, 2. Dezember 2003, 19.00 Uhr
RadioKulturhaus, Studio 3
Argentinierstr. 30a, 1040 Wien. Eintritt frei
->   Mehr über das Cafe Scientifique
...
Recht auf ein gesundes Kind?
Unter den möglichen Indikationen für die PID wären zumindest zwei Fälle zu unterscheiden: Sollen solche Embryonen aussortiert werden, die aus medizinischen Gründen nicht lebensfähig sind - d.h. geht es darum, Eltern überhaupt zu einem leiblichen Kind zu verhelfen -, oder sollen auch solche Embryonen selektiert werden, die zwar lebensfähig wären, aber bei denen mit einer manifesten Erkrankung oder vielleicht auch nur mit einer Disposition für eine im späteren Leben möglicherweise auftretende Krankheit zu rechnen wäre? In diesem Fall ginge es nicht mehr um das Recht auf ein Kind überhaupt, sondern um das vermeintliche Recht auf ein gesundes Kind.
"Wrongful life"?
Wie weit der bereits durch die heute übliche Praxis pränataler Diagnostik hervorgerufene Bewusstseinswandel reicht, zeigen spektakuläre Gerichtsurteile, in denen der Begriff des "wrongful life" eine zentrale Rolle spielt.

In einem Fall wurde ein Arzt zu Schadensersatz verklagt, weil aufgrund seiner vorgeburtlichen Fehldiagnose ein behindertes Kind zur Welt kam, das andernfalls hätte abgetrieben werden sollen. Den Eltern sei, so die Begründung des Gerichts, durch die aufwändige Pflege des Kindes ein materieller Schaden entstanden.

Der Gerechtigkeit halber muss gesagt werden, dass nicht das Kind selbst, sondern die Aufwendungen für seine Pflege als Schaden definiert wurden. Vorausgesetzt wird aber, dass dieser Schaden durch Abtreibung des Kindes hätte vermieden werden können. Aus dem Recht auf Kinder wird also das Recht auf gesunde Kinder.
...
Recht auf Nichtexistenz?
Für Aufsehen hat auch ein spektakulärer Fall in Frankreich gesorgt. Ein Schwerstbehinderter hatte nicht etwa die Ärzte, sondern seine Eltern auf Schadensersatz geklagt, weil diese ihn nicht hatten abtreiben lassen. Dem Kläger wurde Recht gegeben.

Auf die rechtliche Begründung der Gerichtsentscheidung sei hier nicht näher eingegangen. Ethisch von Belang ist jedenfalls die Konsequenz, dass die eigene Nichtexistenz der durch eine Behinderung beeinträchtigten Existenz vorzuziehen ist.

Lässt sich das vermeintliche Recht auf Gesundheit nicht verwirklichen, wird es zu einem Recht auf das eigene Nichtgeborenwerden umgedeutet. Da sich aber die eigene Geburt nicht mehr rückgängig machen lässt, ist es vom Recht auf Nichtgeborenwerden zum Recht auf Euthanasie nur noch ein kleiner Schritt.
...
Welches Leiden ist zumutbar?
In Anbetracht des biomedizinischen Fortschritts wird behindertes oder sonstwie unvollkommenes Leben als Zumutung empfunden, sei es für die Betroffenen selbst, sei es für ihre Umgebung.

Dass das Leben eine Zumutung sein kann und dass wir unseren Kindern, indem wir ihnen das Leben schenken, dieses zugleich zumuten, ist eine grundsätzliche Tatsache, die heute einer neuen Bewertung unterzogen wird. So zwingt uns die moderne Biomedizin, den Begriff des Zumutbaren ethisch zu bedenken.
Die Macht der Gene und ihre Grenzen
Die Idee des Menschen nach Maß muss schon aus wissenschaftlich-technischen Gründen an der Überkomplexität der Wechselwirkungen der menschlichen Gene und epigenetischer Prozesse scheitern.

Die jungen Forschungsgebiete der Genomik und der Proteomik widerlegen inzwischen ältere Vorstellungen eines genetischen Determinismus und einen damit verbundenen weltanschaulichen Reduktionismus. Nicht einmal bei so genannten monokausalen Erkrankungen wie der Chorea Huntington, deren Ausbruch sich heute sehr genau vorhersagen lässt, besteht ein linearer Determinismus.
Die soziale Konstruktion von Krankheit und Behinderung
Überhaupt sind Krankheit, Gesundheit und Behinderung keine rein medizinisch bestimmbaren Phänomene, sondern letztlich soziale Konstruktionen, die medizinisch beschreibbare Sachverhalte einschließen, ohne mit diesen identisch zu sein.

Auch macht es einen Unterschied, ob Behinderung eher als individuelles oder als gesellschaftliches Problem wahrgenommen wird. Dementsprechend werden unterschiedliche Lösungsansätze für die Überwindung von Barrieren entweder auf der individuellen oder auf der gesellschaftlichen Ebene entwickelt.
...
Beispiel: Gehörlosigkeit
Gerade unter Gehörlosen hat sich weltweit in den letzten Jahren eine Emanzipationsbewegung formiert, die taubstummen Menschen zu einem neuen Selbstbewusstsein verhelfen will. Sie begreifen ihr Los nicht als Behinderung oder als Leiden, sondern als Zugehörigkeit zu einer sprachlichen Minderheit mit eigener Kultur; auch in Europa, wo derzeit das Jahr der Menschen mit Behinderungen begangen wird. Ihre Bewegung lehnt es ab, dass sich taube Menschen in die Gesellschaft der Hörenden mittels Lippenlesen und Lautsprache integrieren. Gehörlose sollen sich vielmehr als kulturelle Minderheit gegen die Mehrheit behaupten.

Auch wenn sie nicht hören und sprechen können, sind sie keineswegs sprachlos. Die verschiedenen Gebärdensprachen sind vollwertige Idiome mit breitem Wortschatz und eigener Grammatik. Mit ihrer Hilfe können sich Gehörlose problemlos untereinander verständigen, Witze erzählen oder sogar im Chor singen. Taubstumme haben ihr eigenes Theater und ihre eigene Poesie. Gewiss, in ihrer Welt gibt es keine Töne und Geräusche, kein Vogelgezwitscher und keine Musik. Zumindest Menschen, die von Geburt an taub sind, geben jedoch an, all das nicht zu vermissen, was sie nie gehört haben.
...
Subjektives Leid
Das Beispiel zeigt, wie relativ unsere Begriffe von Behinderung, Krankheit und Gesundheit sind. Auch wenn der Ausspruch von Behindertenvertretern, dass man nicht behindert sei, sondern durch die Umwelt behindert werde, einseitig ist - ein von Geburt an gehörloser Mensch wird sein Schicksal anders empfinden als jemand, der in seinem späteren Leben durch Krankheit oder Unfall das Gehör verloren hat - ist doch deutlich, dass nicht jede so genannte Behinderung als Leiden empfunden wird. Leid ist stets subjektiv.
...
Die Klassifikation von Behinderungen der WHO
Weil Behinderung nicht gleich Behinderung ist, hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) seit 1980 behinderungsspezifische Klassifikationen entwickelt. Eine aktuelle Untersuchung zeigt, dass mit jeder Überarbeitung der WHO-Klassifikationen die gesellschaftliche Partizipation von Menschen mit Behinderungen einen stärkeren Stellenwert erhalten hat. Die neue Studie erhebt allerdings die Forderung, Organisationen, die Menschen mit Behinderungen vertreten, bei der Weiterentwicklung der behindertenspezifischen WHO-Klassifikation stärker als bisher zu beteiligen.

Literaturhinweise:

Marianne Hirschberg, Die Klassifikation von Behinderung der WHO, IMEW Expertise 1, Berlin 2003

Sigrid Graumann/Katrin Grüber (Hg.), Medizin, Ethik und Behinderung. Beiträge aus dem Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft, Frankfurt a.M. 2003
->   Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW)
...
PID - ein gesellschaftlicher Dammbruch?
Bei aller berechtigten Sorge, dass die PID ein behindertenfeindliches Klima begünstigt, sollte man freilich mit so genannten slippery-slope- oder Türöffner-Argumenten sorgfältig umgehen.

Dass die pränatale Medizin generell zu einer Ablehnung von Menschen mit Behinderungen und ihren Angehörigen führt, lässt sich empirisch-soziologisch nicht ohne weiteres bestätigen. Ein unmittelbarer Konnex ist jedenfalls bislang nicht nachweisbar, was nicht heißt, dass entsprechende Befürchtungen jeder Grundlage entbehrten.
PID und Abtreibungsrecht
Befürworter der PID ziehen einen Vergleich zur so genannten embryopathischen Indikation im Abtreibungsrecht. Das österreichische Strafrecht (§ 97 [1] 1 StGB) räumt einer Mutter bei Vorliegen eines embryopathischen Befundes die Möglichkeit eines nicht an Fristen gebundenen straffreien Schwangerschaftsabbruchs ein.

In Österreich wird darüber diskutiert, ob eine PID zumindest in solchen Fällen vertretbar ist, in denen eine chromosomal oder genetisch bedingte Krankheit die Lebensunfähigkeit des Kindes zu Folge hätte. Vergleichbare Richtlinien sind nämlich kürzlich auch von einer interdisziplinären Arbeitsgruppe des Bundesministeriums für Soziale Sicherheit und Generationen für das Problem der so genannten Spätabtreibungen erstellt worden.

Auch die österreichische Bioethikkommission ist mit der Frage befasst, ob es aus medizinischer und juristischer Sicht möglich wäre, eine begrenzte Liste medizinischer Indikationen für eine PID aufzustellen. Überlegenswert erscheint mir zumindest eine Zulassung der PID, wenn das Risiko einer schweren, mit dem Leben nicht vereinbaren genetisch bedingten Erkrankung besteht, die entweder noch während der Schwangerschaft, bei der Geburt oder bis spätestens sechs Monate nach der Geburt zum Tode führt.

Dagegen könnte die Zulassung der PID innerhalb eng gezogener Grenzen die Schwangerschaftsbereitschaft von Risikopersonen deutlich erhöhen. Für die ethische Beurteilung der PID spielt das Argument eine gewichtige Rolle, dass die Intention der PID keineswegs die Selektion und Tötung behinderter Menschen, sondern Schwangerschaft und Geburt von Menschen sind, die ohne PID möglicherweise gar nicht erst gezeugt würden.
Nachdenken erwünscht
Die Diskussion über die PID gibt Anlass auch das heute übliche Ausmaß, in welchem pränatale Diagnostik (PND) zum Einsatz kommt, kritisch zu überdenken. Bisweilen wird auf schwangere Frauen subtiler Druck ausgeübt, sich einer PND zu unterziehen. Die Ablehnung der angebotenen Untersuchung stößt bei Ärzten nicht selten auf Unverständnis.

Wünschenswert wäre eine Verbesserung der österreichischen Fristenlösung durch Einführung einer Beratungspflicht, wie sie z.B. in Deutschland gesetzlich vorgeschrieben ist. Das Ziel solcher Überlegungen darf freilich nicht in der Bevormundung der betroffenen Menschen - und dies sind vor allem die Frauen! - bestehen.

Sollte die PID in eng gezogenen Grenzen zugelassen werden, müsste jedenfalls an dem Grundsatz festgehalten werden, dass die Initiative zu genetischer Beratung, pränataler Diagnose oder gar PID keinesfalls von Außenstehenden, etwa dem Arzt, sondern einzig von den Betroffenen ausgehen darf. Jede andere Praxis würde nicht nur dem Selbstbestimmungsrecht der Ratsuchenden widersprechen, sondern ganz gewiss eine Form der Eugenik darstellen, die aus ethischer Sicht abzulehnen ist.
->   Ulrich Körtner: PID - Hilfe für Betroffene oder neue Eugenik? Teil 1
->   Teil 2
...
Die ExpertInnen-Konferenz "Bioethik im Rampenlicht" (1.-3. Dezember 2003) wird vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kunst (BMBWK) und dem British Council veranstaltet.
->   Infos zur Konferenz: Bioethik im Rampenlicht
...
...
Im Cafe Scientifique (siehe oben) diskutieren:

Ulrich Körtner, Theologe, Institut für Systematische Theologie und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien, Mitglied der Österreichischen Bioethikkommission

Martin Ladstätter, Österreichisches Zentrum für Selbstbestimmtes Leben (BIZEPS), Mitglied der Ethikkommission FÜR die Bundesregierung

Suzi Leather, Leiterin der Human Fertilisation and Embryology Authority (HFEA), London

Tom Shakespeare, Soziologe und Bioethiker, Universität Newcastle, engagiert in der britischen Behindertenbewegung

Ina Wagner, Institut für Gestaltungs- und Wirkungsforschung, TU Wien, Mitglied der österreichischen Bioethikkommission

Moderation: Birgit Dalheimer, Ö1
...
 
 
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Leben .  Medizin und Gesundheit 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick