Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Leben .  Medizin und Gesundheit 
 
Unverfügbarkeit des Lebens?
Der Lebensbegriff in der bioethischen und der medizinethischen Diskussion
 
  Die neue Leitwissenschaft unserer Gesellschaft ist - neben der Informationstechnologie - die Biologie. Doch mit den wissenschaftlichen Fortschritten wächst das Unbehagen an der neuen Bio-Kultur. Grundfragen der Bioethik und der medizinischen Ethik behandelt ein neues Buch.  
Life Sciences und Biomedizin
Auf kaum einem Gebiet wird über Ethik und Moral derzeit so heftig debattiert wie im Bereich der Biowissenschaften und der Biomedizin. Neben Genetik, Molekularbiologie und Biochemie etabliert sich die Bioinformatik als neue Anwendungswissenschaft. Die "Life Sciences" sind der wissenschaftlich-ökonomische Komplex der Zukunft. Die Biotechnologie hält auch in der Medizin Einzug.
Parallel dazu hat sich das wissenschaftstheoretische Interesse von der Erkenntnistheorie auf die Ethik bzw. die Erforschung der wechselseitigen Abhängigkeit beider Disziplinen verlagert. Im öffentlichen Diskurs wird Ethik zur unabdingbaren Voraussetzung für die gesellschaftliche Akzeptanz des wissenschaftlichen Fortschritts.
Ethik des Lebens
Bei der Bioethik handelt es sich dem Namen nach um die "Ethik des Lebens". Bei genauerem Hinsehen zeigt sich freilich, dass der Begriff des Lebens, auf den gegenwärtig kaum ein Ethiker glaubt verzichten zu können, vieldeutig und ungenau ist. Zu beklagen ist ein geradezu inflationärer Gebrauch des Wortes "Leben". Was man genau unter "Leben" zu verstehen hat und welches Leben inwiefern Gegenstand menschlicher Verantwortung und ethischer Rechenschaft sein soll, wird oftmals nicht gesagt.
Der ethischen Urteilsbildung ist dieser Umstand freilich abträglich. Wo suggestive Formeln an die Stelle klarer Begriffe treten, verflacht die Ethik zum moralischen Appell. Denn es ist zwar nichts konkreter als das Leben, aber auch nichts abstrakter als sein allgemeiner Begriff.
Religiöse Konnotationen
In jüdischer und christlicher Tradition wird die Natur als Schöpfung, das Leben als gute Gabe Gottes geachtet. Die religiösen Konnotationen des Lebensbegriffs entscheiden freilich noch nicht darüber, was ethisch erlaubt oder verboten sein soll. Die religiöse Rede von der Heiligkeit oder der Unverfügbarkeit des Lebens entwickelt bisweilen eine problematische Suggestivkraft. Darin besteht auch für die Theologie eine Gefahr. Sofern sie nämlich in den Sog eines unreflektierten Gebrauchs des Wortes "Leben" gerät, kann theologische Ethik zum religiösen Durchlauferhitzer für Allerweltsweisheiten verkommen.
Dass alles Leben - und zwar als solches - heilig ist, klingt nur beim ersten Hören wie eine äußerste Radikalisierung der Ethik, läuft aber in Wahrheit auf ihre Abdankung hinaus. "Wo alles heilig ist, ist nichts mehr heilig" (Christoph Türke). Und oftmals wird übersehen, dass Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben, auf die sich heute namhafte Bioethiker berufen, um das Grunddilemma weiß, wonach Leben immer nur auf Kosten anderen Lebens existieren kann.
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"Ehrfurcht vor dem Leben"
Vordenker einer modernen Bioethik waren Albert Schweitzer und Hans Jonas. Schweitzer formulierte das Prinzip der Ehrfurcht vor dem Leben, Jonas das auf einer "Heuristik der Furcht" basierende Prinzip Verantwortung. Beide Denker argumentieren, dass das Leben als solches einen über Kants Formalismus hinausreichenden kategorischen Imperativ in sich trägt.

Beide Konzeptionen leiden aber unter der Schwierigkeit, dass aus einem bloßen Sein noch kein moralisches Sollen folgt. Die Schwierigkeit des Lebensbegriffs besteht darin, dass er zunächst den Anschein des Empirischen erweckt, tatsächlich aber mehr als nur empirisch ist.
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Biologie und Philosophie
In der bioethischen Diskussion überlappen sich philosophische Traditionen wie die Lebensphilosophie und ihr Vitalismus, Anleihen bei Schopenhauers Mitleidsethik und Nietzsches Lehre vom Willen zum Leben, Henri Bergsons Theorie von einem universalen "élan vital", utilitaristische Ansätze einer Ethik der Interessen und biologisch-naturwissenschaftliche Kategorien.
Schon den Biologen fällt es schwer, genau zu definieren, was sie unter Leben verstehen. Gängige Kategorien des Lebendigen sind Stoffwechsel, Mutation, Reproduktion. Der Evolutionsprozess ist freilich ungerichtet. Er folgt keinem Plan und begründet keine moralischen Normen.
Ein rein biologischer Lebensbegriff ist in der bioethischen Debatte allerdings keineswegs vorherrschend. Hier wird oft ein Lebensbegriff gebraucht, der ähnlich wie die Begriffe "Welt", "Geschichte" oder auch "Gott" auf Ganzheiten verweist, d.h. den Horizont bezeichnet, vor dem sich das menschliche Handeln abspielt. "Das Leben" bezeichnet dann einen übergeordneten Zusammenhang.
"Bios" und "Zoe"
Die griechische Sprache und die antike Philosophie unterscheiden zwei Lebensbegriffe, nämlich "bios" und "zoe". Während als "zoe" die biologischen Phänomene bezeichnet werden, ist - unserem heutigen Sprachempfinden widersprechend - unter "bios" die menschliche Lebensführung verstanden. Beiden gemeinsam ist nach antikem Verständnis eine teleologische Struktur, d.h. ihre Zielgerichtetheit. Hat die "zoe" nach Aristoteles ihr Zentrum in der Seele, so die menschliche Lebensführung im Subjekt bzw. im Geist.
Naturalistische Fehlschlüsse
Durch die Verquickung beider Lebensbegriffe kann der Eindruck erweckt werden, als enthalte das Phänomen des Lebens bzw. der Existenz von Lebendigem bereits eine moralische Forderung in sich. Doch handelt es sich bei dieser Annahme um einen "naturalistischen Fehlschluss", da in Wahrheit aus einem Sein kein Sollen folgt.
Eine rein biologische Betrachtungsweise könnte nicht einmal die Bejahung des Evolutionsprozesses als solchen moralisch rechtfertigen. Denn es entsteht das Dilemma, dass die Natur, die oft in anthropomorpher Weise als Subjekt betrachtet wird, ein Lebewesen hervorbringen konnte, das im Begriff ist, seine eigene natürliche Beschaffenheit gefährlich zu verändern und die es umgebende Umwelt zu zerstören.
Was aber den Zusammenhang von "zoe" und "bios" betrifft, so besteht das erkenntnistheoretische Dilemma darin, dass die sinnhafte Daseinsweise des Menschen, sein Leben in sozialen und kulturellen Formen, von der Biologie als Ergebnis des vollständig sinnfreien Evolutionsprozesses erklärt wird. Eine Ethik des Lebens, welche unter Verweis auf dessen Gegebensein moralische Normen begründen will, gerät daher in Aporien.
Ethischer Pluralismus
So notwendig eine zeitgemäße Ethik des Lebens ist, so groß sind die nach wie vor bestehenden Begründungsprobleme. Sie werden dadurch noch erschwert, dass in der pluralistischen Gesellschaft auch mit einem Pluralismus der Ethiken zu rechnen ist. In der öffentlichen Auseinandersetzung um die Einführung neuer medizinischer Techniken, ihre rechtliche Regelung und Kontrolle, aber auch um eine neue Sicht der Tiere, ihrer Lebensrechte und ihrer Eigenwertigkeit, stehen divergierende Menschenbilder, moralische Überzeugungen und letztlich auch religiöse Grundhaltungen zur Diskussion.
Vor und neben allen Einzelfragen angewandter Ethik, z.B. den Problemen der modernen Reproduktionsmedizin, ist diesen elementaren Fragen besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Zu diesen Fragen gehört nicht zuletzt diejenige nach dem Wesen der modernen Technik und der durch sie bestimmten Sicht des Lebens, das von der Gabe bzw. Vorgabe zum menschlichen Produkt mutiert.
Neuerscheinung
 


Ulrich H.J. Körtner, Unverfügbarkeit des Lebens? Grundprobleme der Bioethik und der medizinischen Ethik, Neukirchen-Vluyn 2001, 155 S., ATS 218,--

Inhalt: Ethik des Lebens. Bioethik und medizinische Ethik - Ehrfurcht vor dem Leben? Der Lebensbegriff in der bioethischen Diskussion - Life Sciences. Akzeptanz und Widerstand, Ängste und Hoffnungen - Der alte und der neue Mensch. Zur vermeintlichen Antiquiertheit des christlichen Menschenbildes - Gesundheit um jeden Preis? Ziele und Kosten des medizinischen Fortschritts aus ethischer Sicht - Ethische Gesichtspunkte der Beziehung zwischen Arzt und Patient - Seelsorge und Ethik. Zur ethischen Dimension seelsorgerlichen Handelns - Von Mäusen und Menschen. Zur Auseinandersetzung mit utilitaristischen Ansätzen medizinischer Ethik - Die Würde des Menschen - unantastbar? Über die rechtliche und moralische Stellung von Embryonen - Erkenntnis und Interesse. Ethische Aspekte der Forschung an nicht zustimmungsfähigen Patienten - Reparaturversuche am Gehirn. Ethische Probleme der Transplantationsmedizin - Was heißt menschenwürdig sterben? Das Menschenbild in der Diskussion zur Sterbehilfe.
 
 
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Leben .  Medizin und Gesundheit 
 

 
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