Werner Lenz
Leiter der Abteilung Weiterbildung am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaften der Universität Graz
 
ORF ON Science :  Werner Lenz :  Wissen und Bildung .  Gesellschaft 
 
Das ganz alltägliche Elend  
  Teilzeitjobs mit wenig Verdienst nehmen zu. Armut trotz Arbeit greift um sich. Zu den bislang sozial wenig Begünstigten kommen die so genannten Working Poor. Das sind Menschen mit Teilzeitbeschäftigungen unter 20 Stunden und befristeten Arbeitsverträgen. Eine Studie von KulturwissenschaftlerInnen der Universität Graz dokumentiert alltägliches Elend.  
Riskante Zukunft
Der Wohlfahrtsstaat verändert sich und reduziert seine bisherigen Sicherheiten. Die Konkurrenz am europäischen und globalen Markt befördert ökonomische Interessen, die keine Rücksicht auf kleinräumige politische und kulturelle Anliegen nehmen.

Das Vertrauen auf einen kontinuierlichen Aufstieg, auf stete soziale Verbesserungen und auf adäquaten Lohn für Arbeit sinkt. Auch ein hoher Bildungsabschluss garantiert keine Anstellung mehr, erworbene Berufsqualifikationen sind nicht von Dauer, Versorgung bei Krankheit und im Alter erfolgt nicht mehr selbstverständlich.
Freiheit oder Abgrund?
Es finden sich genug Stimmen von PolitikerInnen, JournalistInnen und WissenschaftlerInnen, die öffentlich erklären, wie sehr sie diese neuen Umstände schätzen.

Sie freuen sich aus dem Korsett verschiedenster Bindungen entlassen zu sein und jubeln über den Schritt in die vermeintliche Freiheit. Vor einem solchen - oder ist es sogar ein Stoß? - zögern aber viele, denn der Boden gibt nach.
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Das Elend der Welt
Orientiert an großen soziologischen Vorbildern, Ulrich Beck, Richard Sennett und vor allem Pierre Bourdieu und seinem Buch, Das Elend der Welt (1997), wurde von Grazer KulturwissenschaftlerInnen ein Forschungsprojekt durchgeführt. Es hatte den Titel: "Was das Leben schwer macht. Leiden an gegenwärtigen kulturellen und sozialen Bedingungen."
->   Ein Nachruf auf Pierre Bourdieu (24.1.02)
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Ende des goldenen Zeitalters
In der Einleitung schreibt die Herausgeberin Elisabeth Katschnig-Fasch (S.7): Die gegenwärtigen sozialen und kulturellen Umwälzungen und die rasanten Veränderungen wirtschaftlicher und politischer Strukturen treffen jede Einzelne und jeden Einzelnen, und viele in leidvoller Weise.

Ihre weitgreifenden Folgen dringen tief in die alltäglichen Lebenswelten ein. Diese scheinbar unaufhaltsame und unumkehrbare Entwicklung kam gerade in Gang, als die industriellen Gesellschaften eine Art goldenes Zeitalter erreicht hatten, in dem man sich auf sozial geregelte und erworbene Sicherheiten verlassen zu können glaubte.
->   Katschnig-Fasch (www.culturalstudies.at)
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Lebensbilder
Das Buch konzentriert sich auf gegenwärtiges gesellschaftliches Leiden an einem konkreten Lebensort in Österreich, der Stadt Graz. In 23 Lebensbildern kommen die Betroffenen selbst zu Wort und lassen uns erkennen, was sie als ganz alltägliches Elend empfinden.

Dazu gehören (S.10): Mangel an Selbstbestimmung, soziale Nichtachtung, Ausgrenzungen, vielfältige Formen der Verletzung der Würde, Verlust von Perspektiven und - sukzessive - von Handlungskompetenzen.

Sie berichten vom Niedergang traditioneller Berufswelten, von Verschärfungen der Situation am Arbeitsplatz, von der Degradierung ihrer Wohn- und Lebensräume, von ihrem Leiden an der zunehmenden Ausgrenzung und von ihrem Ringen um Anerkennung, die als menschliches Grundbedürfnis ebenso grundlegend ist wie Ernährung.
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Simple Generalisierungen
Berührend ist die generelle Erfahrung, die aus den Interviews herauszulesen ist. Die Menschen erleben, wie leicht ersetzbar sie sind und wie wenig Bedeutung ihrem individuellen Dasein in der gesellschaftlichen Realität zukommt.

Das Buch macht auf verwerfliche simple Generalisierungen aufmerksam, an denen es zur Zeit nicht mangelt.

Die Rede von der besten Familienpolitik, die es je gab, den optimalen Chancen für mobile und flexible Menschen, von einer Universitätsreform, die der Weltklasse entspricht usw. hat geringen Realitätsgehalt.
Gelungene Momentaufnahme
Die Interviews stellen in einfühlsamer Weise die Lebenssituation der Menschen in unserer Gesellschaft vor. Kommentare erläutern und erklären die sozialen Rahmenbedingungen. Das Buch ist eine gelungene Momentaufnahme, die Zustände preis gibt, über die wir vielleicht allzu gerne hinwegsehen.

Zustände, die wir wegdrängen, weil wir mit unseren Angelegenheiten genug zu tun haben. Aber dies vermittelt eben dieses Buch sehr eindringlich: Das Elend geht uns alle an - wir sind Nutznießer und Gefährdete zugleich.
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Buchtipp: Elisabeth Katschnig-Fasch (Hrsg.): "Das ganz alltägliche Elend. Begegnungen im Schatten des Neoliberalismus". Erhard Löcker Verlag, Wien 2003.
->   Erhard Löcker Verlag
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->   Sämtliche Beiträge von Werner Lenz in science.ORF.at
 
 
 
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