Werner Lenz
Leiter der Abteilung Weiterbildung am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaften der Universität Graz
 
ORF ON Science :  Werner Lenz :  Wissen und Bildung 
 
Autonomie als Chance?  
  Schul- und Universitätsreform stehen im Zeichen zugesagter Autonomie. Die Balance zwischen politischer Kontrolle und Selbstregulation ist aber erst zu finden. Das Bildungswesen braucht Deregulierung. Lernen in Netzwerken und in innovativen Lernarrangements entspricht dem aktuellen Bildungsbedarf. Werden autonome Bildungsinstitutionen ihre Chancen nutzen?  
Mehr Selbstverantwortung
Die Konturen der aktuellen Bildungsreform zeigen sich deutlich: Zurücknahme und Reorganisation, aber kein Ende des staatlichen Einflusses - statt Eingriffe in die alltäglichen Abläufe erfolgt Kontrolle durch Geldzuwendungen, Leistungsvereinbarungen und Aufsichtsgremien.

Motivierende Vorschläge treten an die Stelle dirigierender Vorschreibungen. Zugunsten monokratischer Leitungsstrukturen wird Mitbestimmung reduziert. Höhere Bildung wurde gebührenpflichtig - kostenintensiv war und ist sie ja ohnedies.

Das Ministerium für Bildung empfiehlt sich als Aufsichtsrat- und Kontrollorgan aus der Ferne und überlässt die Verantwortung für das Bildungsgeschehen den Institutionen und Lernenden.
Autonomie als Aufgabe
Die Bildungsreformer haben ein medienwirksames Etikett gefunden. Es heißt Autonomie und entkräftet jeden Einwand: "Wollen Sie etwa nicht autonom sein? Nun werden Sie doch bitte endlich erwachsen und selbständig!"

Der Staat zieht sich zurück. Institutionen und Lernende sollen eigenverantwortlich agieren. Doch über die Ausgestaltung der Autonomie gibt es, wie jetzt am Beispiel der Universitätsreform deutlich wird, unterschiedliche Auffassungen zwischen Ministerium und Institution.
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Bildung ist keine Ware
Autonom heißt nach eigenen Gesetzen handeln, unabhängig sein sowie befugt, sich die eigenen Verhältnisse zu regeln. Die praktikable Balance zwischen Kontrolle und Selbstbestimmung ist in einem System, das bislang durch Direktiven, Weisungen und Ausnutzen von Abhängigkeit reguliert wurde, erst mühsam zu erarbeiten.

Die politische Steuerung in Richtung Autonomie folgt vorausgegangenen gesellschaftlichen Veränderungen - einer ökonomisch motivierten Liberalisierung und der Ideologie, der Markt regle alles.

Doch Bildung ist kein Produkt, das einem einfachen Preis-Leistungsschema unterliegt. Bildung braucht das Engagement und die Schaffenskraft der Interessierten. Sie nehmen Bildung nicht aus dem Regal - sie bilden sich selbst durch individuelle und gemeinsame geistige Anstrengung - dafür brauchen sie anregende Lernbedingungen und unterstützende Lehrende, Bücher, Informationen, Beratung und Zeit.
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Bildungsziel: Urteilsfähigkeit
Jenseits aller parteipolitischer Diskussionen ist Deregulierung im Bildungsbereich notwendig geworden. Lernbedürfnisse und Lerninteressen, Wissenszugang, Nachfrage nach Kompetenzen haben eine Dynamik entwickelt, die traditionelle Institutionen, Fächer und selbst den klassischen Bildungskanon alt aussehen lassen - alt und abgelaufen.

Entgrenzung hat eingesetzt. Erwartungen an Qualifikationen haben sich verändert, was tatsächlich gebraucht wird, ist schwer vorherzusagen, übergreifende, allgemeine Fähigkeiten finden Vorzug, die Erstausbildung ist keinesfalls genug, ein Studium allein keine Garantie für eine attraktive Anstellung.

Der Wissenserwerb bleibt längst nicht mehr auf die Vermittlung einer Institution, z.B. die Universität, beschränkt. Die kann oder könnte sich wieder auf ihre wichtige Bildungsaufgabe konzentrieren: Urteilsfähigkeit einzuüben.
Lernen im Netzwerk
An die Weiterbildung werden differenzierte und spezifische Lernerfordernisse herangetragen. Selbstgesteuertes, autonomes Lernen ist problemorientiert und situationsspezifisch.

In einer individualisierten Gesellschaft ist individualisiertes Lernen notwendig. Lernende Organisationen brauchen "maßgeschneiderte", ergebnisorientierte Lernprogramme.

Um den neuen Bildungserwartungen zu entsprechen, entstehen neue Angebotsformen. "Lernen in Netzwerken" schafft neue Wissensfelder. Neue Kooperationen zwischen bislang separat agierenden Bildungsinstitutionen entstehen - sie klären ihr Profil und schaffen innovative regionale Zusammenschlüsse.
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Lernort Bibliothek
Ein Beispiel für die Kooperation zwischen Volkshochschule, Stadtbibliothek und Universität bietet ein soeben abgeschlossenes Projekt in Stuttgart: EFIL - "Entwicklung und Förderung innovativer weiterbildender Lernarrangements in Kultur- und Bildungseinrichtungen".

Gerade für Innovationen ist die Vernetzung förderlich, weil sich dadurch Veränderungen in Organisation und Professionshandeln erleichtern. So ist der Bibliothekar der Zukunft nicht bloß auf das Bewahren von Büchern fixiert. Er arrangiert Lerngelegenheiten, gestaltet Informationszugänge, unterstützt und beurteilt eingeschlagene Lernwege. Das Berufsbild wandelt sich vom Buchbewahrer zum Informationsmittler und Lernbetreuer.

Ausführliche Darstellungen finde sich im eben erschienenen Buch: Achim Puhl, Richard Stang (Hrsg.): Bibliotheken und die Vernetzung des Wissens. W. Bertelsmann Verlag, Bielefeld 2002, 183 Seiten.
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Kritische Wissenschaft
Vernetztes Lernen und innovative Kooperationen bringen neue Herausforderungen an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit sich. Sie sind sicherlich mit ihren Fähigkeiten zu analysieren, zu strukturieren und zu systematisieren weiterhin gefragt - doch kurzfristiger und mehr situationsbezogen.

Sie müssen sich auf Prozesse, Kommunikation und Intervention - auf direkte Kontaktnahme - einlassen. Im geschilderten Projekt war es das Alltagsgeschäft der Bildungsarbeit in Volkshochschule und Bibliothek. Das verspricht reichen Gewinn: Kenntnis aktuellen gesellschaftlichen Bildungsbedarfs, Anstoß für weitere Forschung, Anregungen für die Lehrtätigkeit.

Zugleich ergibt sich als wichtigste Aufgabe für die Wissenschaft: sich nicht von der Praxis vereinnahmen zu lassen, sondern diese zu beurteilen. Kritik, das heißt Beurteilung der Realität ist gefordert - das kann Warnung vor oder Unterstützung von Entwicklungen sein.
So viele Chancen
Wird die Universität ihre Autonomie dafür nutzen, offensive Urteile zu wagen? Wird sie ihre Selbstregulierung an einem solchen Wert ausrichten? Es ist ihre Chance, gesellschaftliche Bedeutung zurückzugewinnen.

Es ist ihre Chance, Vorbildwirkung für andere Bildungsinstitutionen zu bekommen. Es ist ihre Chance, sich auf diese Weise dem Vorwurf nur Außeninteressen zu dienen, entgegenzustellen. Es ist ihre Chance und ihre vornehmste Aufgabe, praxisorientiert zu forschen, theoriegeleitet zu reflektieren und realitätsnah auszubilden.

Es ist die Chance, Studierende zu motivieren, sich durch Wissenschaft zu bilden - Zusammenhänge zu erfassen, Orientierung zu gewinnen und selbstständige Urteilskraft zu entfalten.
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