Werner Lenz
Leiter der Abteilung Weiterbildung am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaften der Universität Graz
 
ORF ON Science :  Werner Lenz :  Wissen und Bildung 
 
Spuren der Kindheit  
  Wir sind das Kind, das wir einmal waren. Anders als die wissenschaftliche öffnet die literarische Sicht auf die Kindheit den Zugang zu Erlebnissen und Gefühlswelt. Der Blick auf Kinder hilft zu entdecken, wer wir waren und wer wir geworden sind. Er kann anregen, Kinder achtsam zu behandeln.  
Das Kind in uns
Als Erwachsene stolpern wir manchmal. Ein Gefühl aus unserer Kindheit ragt wie die Spitze eines Eisberges in unseren Alltag. Eine unbeschwerte Erinnerung, die Sehnsucht nach einem vertrauten Ort des Spielens, die Freude über ein längst vergangenes Ereignis tauchen plötzlich auf - das ist der Geschmack der glücklichen Kindheit.

Den dunklen Schatten und Fallgruben wird ausgewichen: peinlichen Niederlagen, Erlebnissen des Versagens, unerfüllten Wünschen, dem Gefühl benachteiligt worden zu sein, verletzenden emotionalen Zurückweisungen...
Gefühle
Oft bemühen sich Erwachsene den unangenehmen Anteilen ihrer Kindheit aus dem Wege zu gehen. Verdrängt aber nicht aufgearbeitet existiert das Kind in uns, das wir einmal waren.

Es bestimmt unsere Handlungen mit, ob wir wollen oder nicht. Unser Gefühlshaushalt und unsere Empfindungen orientieren sich an unseren Erfahrungen mit Zuneigung, Liebe, Ablehnung, Hass in früher Kindheit.
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Beschreibungen
Literarische Zeugnisse über Kindheit entstehen nicht mit dem Anspruch differenziert zu analysieren. Sie bieten Ausschnitte, Szenen, pointierte Wahrnehmungen. Sie beschreiben einen Hintergrund, auf dem sich ausgewählte Figuren in besonderen Situationen bewegen.

Das gibt vielleicht für wissenschaftlich Fragestellungen Anlass oder einfach Gelegenheit, um uns selbst zu fragen, ob und wie wir das Kind in uns spüren.
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Achtsamer Umgang
Um es nicht zu vergessen: Bücher über Kindheit erinnern daran, achtsam darauf zu sein, wie wir Kinder täglich behandeln und in welcher Weise wir ihre Empfindungen formen.

Drei Bücher habe ich ausgewählt, die Beobachtungen und Empfindungen über Kindheit vorstellen. Alle drei deshalb, weil sie der Gefühlswelt von Kindern Aufmerksamkeit, Platz und Zugang einräumen.
Hass auf Herkunft
Auf knapp 90 Seiten erzählt Natalia Ginzburg (1916 - 1991) Kindheitserlebnisse der 16-jährigen Delia. Ihr einziges Ziel: das triste Elterhaus zu verlassen und in der Stadt zu leben. Die eigene Herkunft verlöschen, verschweigen, sich aus ihr zu lösen und nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen - dem Hineingeborensein entkommen um jeden Preis, den Delia auch zahlt.

Natalia Ginzburg: Die Straße in die Stadt. Roman. (1942). Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1998, 88 Seiten.
Landflucht
Vom Dorf in die Stadt siedelt die Mutter des Ich-Erzählers. Als Akt der endgültigen Befreiung von ihrem Elternhaus holt sie ihren schulpflichtig werdenden Sohn nach Salzburg. Bis dahin wuchs er bei den Großeltern in Kärnten auf. Peter Truschner (Jahrgang 1967) beschreibt mühsame Wege der Loslösung. So wie die Schlange sich häutet, versucht der Protagonist Altes hinter sich zu lassen und "Ich-Selbst" zu werden.

Peter Truschner: Schlangenkind. Roman. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2001, 175 Seiten.
Ortswechsel
Nach zwei Jahrzehnten Aufenthalt in Japan kehrte Florian Coulmas (Jahrgang 1949) als Professor für Kultur und Geschichte des modernen Japans nach Deutschland zurück. Er erlebt an sich selbst aber vor allem an seinen Kindern kulturelle Differenzen. Kindergarten und Schule formen das Verhalten seiner Kinder: sie werde lauter, schimpfen, streiten, zanken - sie passen sich an die Welt, die Erwachsene vorgeben, an. Der Autor bemerkt den Einfluss von Kirche und Religion auf die Schule, die latente Aggressivität in unserer Gesellschaft, die Unterschiede an der Universität, die Menge von Vorschriften, die uns regulieren, die unliebsamen Formen des Umgangs miteinander.

Japan ist nicht besser, es ist anders. Der Autor moralisiert nicht. Er stellt gesellschaftliche Lebensformen nebeneinander. Mit grimmigem Lächeln zeigt er, unter welchen Bedingungen unsere Kinder heranwachsen - wie das Kind in uns herangewachsen ist.

Florian Coulmas: Die Deutschen schreien. Beobachtungen von einem, der aus dem Land des Lächelns kam. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2001, 189 Seiten.
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