Werner Lenz
Leiter der Abteilung Weiterbildung am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaften der Universität Graz
 
ORF ON Science :  Werner Lenz :  Wissen und Bildung 
 
Niemand ist ungebildet  
  Hat die bürgerliche Bildung ausgedient? Ihre Kernbereiche, Latein und Griechisch, führen in der Schule eine Randexistenz. Die diskriminierende Unterscheidung in Gebildete und Ungebildete klingt überholt. Eine demokratische Chance: Kein Bildungskanon fesselt selbstbestimmten Wissenserwerb.  
Wer ist gebildet?
Als gebildet bezeichnen wir Personen, die viel wissen, Zusammenhänge verstehen, in Geschichte, Kunst und Literatur mitreden können sowie überlegt und überlegen argumentieren. Ungebildet erscheinen uns die rohen, unfeinen, wenig wissenden Menschen. Gebildete rechnen wir zur Sphäre des Schön-Geistigen, zur stilisierten Kultur - mit der harten Realität von Technik und Ökonomie haben sie wenig gemein.
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Lernen und Leistung
Bildung - im Sinne von Aufklärung und Emanzipation - war ein Kampfbegriff des Bürgertums im 18. und 19. Jahrhundert. Lernen und Leistung aber nicht die zufällige Geburt in einen bestimmten Stand sollten über die Stellung in der Gesellschaft entscheiden. Die Orientierung an der Antike und der vollständige Mensch galten als Ziele der allgemeinen Menschenbildung, die jeder Berufsbildung vorausgehen sollte.
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Fehlendes Prestige
Die Gesellschaft bestand im bürgerlichen Zeitalter aus Gebildeten, die Ungebildeten zählten nicht dazu. Der klassische Bildungskanon und das Erlernen antiker Sprachen wurden von Naturwissenschaft, Technik, Ökonomie und lebenden Fremdsprachen immer mehr zurückgedrängt. Doch den neuen Inhalten fehlte das Prestige, der Menschenbildung zu dienen.
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Wertewandel
An die Stelle der bisherigen bürgerlichen Werte Aufklärung, Emanzipation oder Selbstbestimmung tritt der Bedarf der Wirtschaft. Qualifikationen und Kompetenzen sollen helfen, den Wirtschaftsraum zu sichern, Wohlstand und Konsum zu erhöhen. Wettbewerb und Konkurrenz sind die Leitmotive. Das ökonomische Denken behandelt Bildung wie eine Ware - das bleibt unbefriedigend, weil Bildung als nützliches Gut allenfalls kurzfristiges, brauchbares Wissen vermittelt, aber nicht mehr sinnstiftend wirkt.
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Sinnsuche
Sinn wird weiterhin gesucht - Verzweiflung und Enttäuschung bringen Erfolge für Sekten, Drogen, Alkohol ... Fehlender positiver Lebenssinn macht die Menschen aggressiv gegen andere und gegen sich selbst. Sie klammern sich an das Bestehende, sind skeptisch gegenüber Alternativen, reagieren mit Angst auf Verän-derungen, wehren Fremdes ab.

Wo der Bildung die Kraft fehlt zu reflektieren, zu beurteilen und zu orientieren, verengt sich der Spielraum für kreative Ideen. Wir verlieren das Vertrauen in die eigene Stärke, unser Leben als etwas Sinnvolles zu betrachten.
Selbstvertrauen
Lernen, Bildung, Wissen sind öffentliche Güter, Bildung und Weiterbildung gelten heute als Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft. Doch es besteht Ungleichheit. Kinder kommen nicht ungebildet in die Schule.

Um ihrer Individualität gerecht zu werden, darf man sie nicht gleich behandeln. Ansonsten entsteht durch Gleichheit Ungleichheit. Wichtig ist, das Selbstvertrauen und die Selbstsicherheit der Kinder zu fördern, eigenverantwortlich lernen zu können.
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Ermutigen
Das verlangt ein neues Bildungsverständnis: Schulen, die am Leben Anteil haben, Lehrerinnen und Lehrer, die die Neugier und Phantasie der Kinder achten. Es erfordert die Einsicht, dass Kinder nicht ungebildet sind - sie haben schon am ersten Schultag jahrelange, enorme Lern- und Lebenserfahrung. Darum: Fördern statt auslesen! Wichtigstes Leitmotiv: Mache die Kinder nicht mutlos!
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Anspruch nicht Vorgabe
Die Aussage, niemand ist ungebildet, versteht sich als demokratische Forderung für Kinder und Erwachsene. Sie verlangt: Anerkennung vorhergegangenen, außerinstitutionellen Lernens, gleiche Wertschätzung berufsbezogener und allge-meiner Bildung sowie Vertrauen in die Eigenständigkeit von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, sich selbst zu bilden und weiterzubilden.

An die Stelle lebenslangen Belehrens tritt der Anspruch lebensintegrierter Bildung - nicht als Vorgabe von außen, sondern als selbstgestellte Aufgabe.
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Eine längere Fassung dieses Textes ist am 31. 5. um 9.45 Uhr im "Österreich 1 Essay" zu hören.
->   Radio Österreich 1
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