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Erstmals Hirnstamm-Implantate gegen Gehörlosigkeit  
  Der Hirnstamm gilt als immens empfindlicher Teil des menschlichen Denkorgans. Jede kleinste Verletzung seiner Neuronen kann schwerwiegende Folgen haben. Doch jene Fortsetzung des Rückenmarks ist auch Gegenstand von Forschungen gegen Gehörlosigkeit. US-Forscher haben nun zwei Betroffenen erstmals direkt in das verletzliche Areal eine neue Art von Implantat eingesetzt. Die - nicht ungefährliche - Technik soll gehörlosen Menschen zugute kommen, denen die Medizin derzeit nicht wirklich helfen kann.  
Die neuen Implantate wurden von Forschern des House Ear Institute in Los Angeles entwickelt, wie das Wissenschaftsmagazin "New Scientist" berichtet.
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Der Artikel "Where no implant has gone before" von Duncan Graham-Rowe ist erschienen im "New Scientist", Ausgabe vom 10. Jänner 2004.
->   Der Artikel in www.newscientist.com
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Hirnstamm: Sehr wichtig auch fürs Gehör
Der empfindliche Hirnstamm beherbergt als Fortsetzung des Rückenmarks nicht nur diverse wichtige motorische Zentren. Auch das Steuerungszentrum für die Atmung findet sich dort. Und nicht zuletzt ist das Areal von Bedeutung für diverse Sinneswahrnehmungen, vor allem auch das Hören.

Das wird etwa dann interessant, wenn es um spezielle Fälle von Gehörlosigkeit geht. Die meisten Betroffenen leiden unter Problemen mit den sensorischen Haarzellen im Innenohr - das lässt sich mittlerweile durch dort eingesetzte Implantate beheben.

Schwierig wird es aber, falls die so genannte Cochlea oder der Hörnerv selbst beschädigt sind, wie der "New Scientist" berichtet. Häufige Ursache: Eine Form der Neurofibrimatose (NF2), bei der sich gutartige Tumore im Innenohr bilden können.
Derzeitige Methode: Implantat außerhalb des Stamms
Derzeit gibt es nur eine Methode, jenen Patienten zu helfen: Man versucht, den Gehirnstamm selbst zu stimulieren - und zwar mithilfe eines Auditorischen Hirnstamm-Imlantates (ABI).

Das allerdings liegt außerhalb des empfindlichen Gehirnareals - und verhilft zwar zu einer gewissen Hörfähigkeit, Gesprochenes etwa kann jedoch meist nicht verstanden werden. Das Problem: Ein ABI kann nicht verschiedene Gruppen von Nerven getrennt stimulieren, die unterschiedlichen Frequenzbereichen entsprechen.
Neues Implantat: Acht Elektroden direkt in Gehirnstamm
Bild: New Scientist
Diese Schwierigkeiten wollen die US-Forscher unter der Leitung von Bob Shannon nun ausräumen. Acht Elektroden unterschiedlicher Länge werden bei dem neuen Implantat direkt in den Gehirnstamm eingeführt (siehe Bild rechts) - und sollen damit in der Lage sein, verschiedene Nervenbündel individuell zu stimulieren und so verschiedene Frequenzen zu erzeugen.

Schlüssel zum Design des Implantats ist vor allem die Form der Elektroden: Sind diese zu scharf, verletzen sie womöglich kostbare Nervenzellen, sind sie dagegen zu stumpf, so "zerdrücken" sie die Neuronen.

Daher ist die Prozedur auch so riskant: Denn jegliche Verletzung von Nervenzellen könnte desaströse Folgen für die Betroffenen haben. "Auf der Ebene des Hirnstamms könnte jedes Neuron, das man verletzt, Funktionen beschädigen", beschreibt Forschungsleiter Shannon.
Elektroden wie Spitze eines Bleistifts
 
Bild: New Scientist

Das neue Implantat und seine Anordnung im Ohr bzw. Gehirn.

Die Mediziner testeten daher sehr lange verschiedenste Formen aus - an Versuchstieren und Leichen -, bevor sie das ideale Maß gefunden hatten: Das Ergebnis gleiche der Spitze eines Bleistifts, heißt es im "New Scientist".

Die Elektroden glitten an den Neuronen vorbei, ohne sie zu verletzten und hätten sich als sicher genug erwiesen, um an Menschen getestet zu werden.
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Das Gehör: Vom Trommelfell über das Innenohr ans Gehirn
Bevor das menschliche Gehirn Laute registriert, werden sie über das Trommelfell auf die Knochen des Mittelohrs und von dort auf die so genannte Schnecke (Cochlea) im Innenohr übertragen. Auf jeder Nervenfaser in der Cochlea gibt es feine Sinneshärchen, die in den Haarzellen verwurzelt sind - mit einem Durchmesser von bis zu einem Millionstel Meter.

Bündel von Haarsinneszellen nehmen schließlich im Innenohr die Schallschwingungen wahr und wandeln sie in elektrische Aktionspotenziale um - einige von ihnen leiten das Signal schließlich als Nervenimpuls an das Gehirn weiter. Eine tragende Rolle kommt dabei auch dem Gehirnstamm als wichtige Schaltzentrale zu (siehe Abbildung oben).
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Zwei Betroffene bereits behandelt
Immerhin zwei Betroffene sind mittlerweile mit dem neuen Implantat ausgestattet worden. Zu Beginn des vergangenen Jahres behandelten die Forscher eine 19-jährige Frau, aber nur eine der acht Elektroden scheint zu funktionieren.

Eine zweite Betroffene erhielt erst im November ein Implantat eingesetzt. Dem Bericht zufolge ist es noch zu früh für eine Bewertung.
Neuer Ansatz - mit hoffnungsvollem Ausblick
Eine Elektrode von acht scheint nicht sehr viel. Tatsächlich ist das Ergebnis in diesem Fall offenbar nicht besser als bei einem herkömmlichen ABI. Doch immerhin konnte das Lippenlesen um etwa 30 Prozent verbessert werden.

Wie Forschungsleiter Shannon aber meint, könnten schon vier funktionierende Elektroden ausreichen, um Sprache zu verstehen.

Sollte die Behandlung also eines Tages funktionieren, könnte sie die Behandlung von Betroffenen revolutionieren - und etwa Kindern helfen, die ohne Cochlea-Nerv auf die Welt kommen.
->   House Ear Institute
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01.01.2010