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Politik des Lebens - Politik des Sterbens  
  Was in der Biomedizin erlaubt werden soll und was nicht, bereitet von Wertepluralismus geprägten Gesellschaften zunehmend Probleme, die der deutsche Publizist Andreas Kuhlmann in seinem soeben erschienen Buch beschreibt.  

Die Fortschritte in der Biomedizin scheinen sowohl Anfang als auch Ende des Lebens zunehmend zur naturwissenschaftlich-medizinischen Disposition zu stellen. Für den Alltag jedes Einzelnen bergen die biomedizinischen Innovationen Möglichkeiten, bei denen Chance und Risiko scheinbar fast untrennbar eng beieinander liegen. Die Liste der Für und Wider der modernen Medizin wird von Andreas Kuhlmann umfassendst dargestellt.

Geht es dann darum, aus dieser Darstellung Anleitungen für einen Gesetzwerdungsprozess abzuleiten, sind-und bleiben-allerdings neue Ideen gefragt.
Debatte um Embryonenschutzgesetz
Gerade an der Embryonenforschung zeigt sich besonders deutlich, vor welchem Dilemma liberale Gesellschaften stehen, wenn es darum geht, gesetzliche Regelungen zu finden. Die seit über einem Jahr stattfindende heftige Diskussion um eine Neuregelung des Embryonenschutzgesetzes in Deutschland war für den Autor dann auch der aktuelle Anlass, die Politik der Biomedizin zu untersuchen.

Die pluripotenten Stammzellen, die Zellen also, die noch beinahe alle Möglichkeiten zur Entwicklung in sich bergen und dadurch für die Medizin so interessant sind - sie versinnbildlichen für Kuhlmann das Kernproblem der aktuellen Debatte.
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Keine strikten Verbote
''Den Begriff der ''Pluripotenz'' kann man metaphorisch auf das Bild, das diese Gesellschaft von sich selbst macht, übertragen: Geht es bei den angestrebten transplantationsmedizinischen Verfahren darum, Zellen in einem Zustand zu erhalten, in dem sie auf alle möglichen besonderen Aufgaben hin konditioniert werden können, so sind liberaldemokratische Gemeinwesen stolz darauf, Entwicklungsmöglichkeiten zu eröffnen und dem einzelnen die Wahl seines Lebensweges selbst zu überlassen. Gerade weil die Forschung an Embryonen ein großes Spektrum weitreichender Langzeitwirkungen in sich birgt, ist es unter liberalen Vorzeichen sicher nicht vertretbar, sie auf Dauer strikt zu unterbinden."
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Wird sie nicht strikt unterbunden beginnt allerdings die heikle Gratwanderung, wo Grenzen zu setzen wären.
Genetische Tests
Wie etwa ließe sich das Verbot genetischer Tests einem Elternpaar gegenüber argumentieren, dass durch eine schwere Erbkrankheit in der Familie viel Leid ertragen hat und nun durch ebensolche Untersuchungen sicherstellen will, dass das eigene Kind diese Krankheit nicht haben wird? Gleichzeitig soll eine neue Form der Unterscheidung zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben vermieden werden.
Intensivmedizin
Wenn die Intensivmedizin Leben verlängern und den Zeitpunkt des Todes praktisch technisch bestimmen kann - wo beginnt und wo endet dann das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, auf diese Methoden Einfluss zu nehmen? Und was, wenn er dazu gar nicht mehr in der Lage ist?
Selbst-Gesetzgebung
Die ''Biomacht'', so kritisierte Michel Foucault, macht jede Vorstellung zunichte, der Patient könnte wenigstens im abgeschwächten Sinne ''autonom'', das heißt als ''Selbstgesetzgeber'' handeln. Ethikkommissionen versuchen heute vielerorts, die Biomacht in Schranken zu zwängen. Auch hier mahnt Kuhlmann jedoch zur Vorsicht.
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Keine Experten-Ethikkommissionen
''Wenn man schon Ethikkommissionen die Kompetenz zuerkennt, solche Entscheidungen zu treffen, dann widerspricht es den elementarsten Anforderungen demokratischer Legitimation, sie allein mit Experten zu besetzen. Fachkenntnisse bieten keineswegs eine ausreichende Grundlage, wenn Werturteile gefällt werden sollen, die gesellschaftlich akzeptables von nicht akzeptablem Verhalten unterscheiden.''
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Wie könnten diese Vorstellungen jedoch in einen konkreten Gesetzestext gegossen werden? Kuhlmann kritisiert schließlich die aktuelle deutsche Diskussion im Zusammenhang mit der Änderung des Embryonenschutzgesetzes.
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Unempfindliche Prinzipienfestigkeit
''Hierzulande werden medizinische Optionen in toto verworfen mit dem Rekurs auf grundlegende Werte wie Menschenwürde, Lebensschutz oder Diskriminierungsverbot. Diese Prinzipienfestigkeit scheint eine eindeutig ''humane'' Vorgehensweise zu garantieren und zeigt sich doch häufig eigentümlich unempfindlich gegenüber konkreten menschlichen Bedürfnissen.''
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Am Ende seines Buches fordert Andreas Kuhlmann statt Prinzipienfestigkeit ''menschliche Klugheit'' ein. Zur ''Stärkung dieser individuellen Tugend'' müssten ''institutionelle Vorkehrungen getroffen und entsprechende politische Initiative und Phantasie walten gelassen werden''. Ob das ein konkreterer Vorschlag zur Gesetzesgestaltung ist, bleibt allerdings anzuzweifeln.

Birgith Dalheimer, Ö1-Wissenschaft
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Andreas Kuhlmann: ''Politik des Lebens ¿ Politik des Sterbens. Biomedizin in der liberalen Demokratie.'' 2001. Alexander Fest Verlag. I234 S., öS 261,-.
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01.01.2010