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Mehrzeller überlebt seit Millionen Jahren - ohne Sex  
  Die so genannte asexuelle Fortpflanzung gilt eigentlich als evolutionäre Sackgasse. Ungeschlechtliche Vermehrung findet entweder als eine Art "zusätzliche Vermehrungsstrategie" Anwendung, oder der betroffene Organismus stirbt relativ rasch wieder aus, lautet die Lehrmeinung. Die mögliche Ausnahme von der Regel: ein mehrzelliger Meeresbewohner, der zu den Rädertierchen gehört. US-Forscher haben nun erneut das Erbgut des Organismus unter die Lupe genommen: Die Gruppe der Bdelloidae lebt demnach tatsächlich völlig ungeschlechtlich - und zwar höchst erfolgreich seit Millionen von Jahren.  
Ein Team von US-Wissenschaftlern vom Marine Biological Laboratory in Woods Hole im US-Bundesstaat Massachusetts sowie von der Harvard University hat sich ein Hitzeschock-Gen im Genom der Rädertierchen ganz genau angesehen - und kommt zu dem Schluss, dass sich die Wasserbewohner tatsächlich völlig ungeschlechtlich fortpflanzt.
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Gleich zwei Artikel zu diesem Thema erscheinen diese Woche (19. - 23. Jänner 2004) als Online-Vorabpublikationen in den PNAS: "Cytogenetic evidence for asexual evolution of bdelloid rotifers" von Jessica L. Mark Welch und Kollegen (doi:10.1073/pnas.0307677100) sowie "Divergent gene copies in the asexual class Bdelloidea (Rotifera) separated before the bdelloid radiation or within bdelloid families" (doi:10.1073/pnas.2136686100)von David B. Mark Welch und Kollegen.
->   PNAS Online Early Edition
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Sexuelle Fortpflanzung: Höchst erfolgreiche Strategie
Die überwiegenden Mehrheit aller Tiere und Pflanzen auf der Erde bedient sich für die eigene Vermehrung der so genannten sexuellen oder geschlechtlichen Fortpflanzung. Dafür sind in der Regel sowohl Männchen als auch Weibchen einer Art notwendig, die ihr Erbgut an die Nachkommen weitergeben.

Jene Methode der Fortpflanzung ist vergleichsweise anstrengend für die Beteiligten. Dennoch: Betrachtet man den Erfolg dieser Strategie, so scheint der evolutionäre Vorteil schon durch die schiere Übermacht an Vertretern belegt.
Asexuelle Fortpflanzung als "Alternative"
Dagegen finden sich weitaus seltener Beispiele für die ungeschlechtliche oder asexuelle Fortpflanzung. Daraus entstandene Nachkommen sind im Grunde Klone ihres Elternorganismus.
Eine "evolutionäre Sackgasse"?
Doch bei fast allen Lebewesen kommt es zumindest gelegentlich zur sexuellen Vermehrung. "Sexuelle Reproduktion ist bei mehrzelligen Organismen fast durchgängig zu finden", schreiben denn auch die Forscher in den PNAS. "Und obwohl kontinuierlich asexuelle Populationen entstehen, erleiden diese fast ausnahmslos ein frühes Aussterben."

Unter den höher stehenden Organismen hätten sich dementsprechend viele Arten, die (zunächst) unter Verdacht der ungeschlechtlichen Fortpflanzung standen, entweder als sexuell erwiesen - oder aber als relativ junge Art. "Die Preisgabe der sexuellen Reproduktion gilt daher im Allgemeinen als evolutionäre Sackgasse."
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Variantenreiches Erbgut als Vorteil
Biologen erklären die "Übermacht" der sexuellen Fortpflanzung - vereinfacht dargestellt - mit der Tatsache, dass nur auf diese Weise das Erbgut der Nachkommen immer wieder durch neue Varianten bereichert wird und das Individuum auf diese Weise fit für das Überleben macht. Die so genannte Parasiten-Hypothese etwa sieht die sexuelle Fortpflanzung als Mittel, dem Selektionsdruck durch Parasiten stand zu halten.

Zudem haben diverse Studien die negativen Folgen der Inzucht ausreichend belegt. Es scheint zu gelten: Um hinlänglich gegen die Widrigkeiten der Natur gewappnet zu sein, bedarf es bei allen Lebewesen - evolutionsbiologisch betrachtet - möglichst großer genetischer Vielfalt.
->   Mehr zur Parasiten-Hypothese (www.wissenschaft-online.de)
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Bdelloidae als große Ausnahme

Ein zu den Bdelloidae gehörendes Rädertierchen
Doch jeder biologischen Regel ihre Ausnahme: In diesem Fall trägt sie den Namen Bdelloidae und bezeichnet eine Gruppe winziger Wasserbewohner, die zu den Rädertierchen gehören.

Noch nie wurde ein männlicher Vertreter oder auch ein Hermaphrodit dieser Spezies entdeckt, weswegen der Vielzeller seit geraumer Zeit die Evolutionsbiologen beschäftigt.

Schließlich scheinen die Bdelloidae der sexuellen Fortpflanzung schon vor mehreren Millionen Jahren den Rücken gekehrt zu haben - von einem "frühen Aussterben" kann man also nicht sprechen. Und man kennt heute immerhin rund 370 verschiedene Arten.
->   Infos und Bilder zu den Rädertierchen (UC Berkeley)
Oder doch geschlechtliche Vermehrung?
Seit Jahren suchen Biologen nach Hinweisen darauf, dass sich das winzige Lebewesen doch der geschlechtlichen Vermehrung bedient. Alle bisherigen Untersuchungen des Genoms haben allerdings ergeben, dass die vorhandenen Kopien der jeweils untersuchten Gene mit einer asexuellen Evolution über lange Zeit hinweg konsistent waren.

Dennoch: Es bestand immer noch die Möglichkeit, dass die Wissenschaftler bislang jene Gen-Paare schlicht übersehen hatten, die darauf hindeuten würden, dass die Bdelloidae sich sehr wohl geschlechtlich fortpflanzen bzw. eine Art von (möglicherweise bislang unbekanntem) Gen-Transfer betreiben, dabei aber eine hochgradige Inzucht aufweisen.
Neue Analyse: Bdelloidae völlig asexuell
Um diese Möglichkeit zu testen, untersuchten die Wissenschaftler um Jessica Mark Welch nun erneut das Hitzeschock-Gen "hsp82" der Bdelloida-Art Philodina roseola. Vier verschiedene Kopien waren bislang bekannt.

Und auch das Forscherteam konnte keine neuen Varianten entdecken. Die vier Varianten von hsp82 liegen demnach auf verschiedenen Chromosomen im Genom der Bdelloidae und weisen substanziell unterschiedliche Sequenzen auf.

Die Schlussfolgerung der Wissenschaftler lautet denn auch, dass die Gene seit mindestens einer Million Jahre unabhängig voneinander bestehen. Und es handele sich bei dem winzigen Wasserbewohner tatsächlich um ein völlig asexuelles Wesen.

Des Rätsels Lösung allerdings, wie ihm über einen so langen Zeitraum das Überleben gelingen konnte, liefern auch die Biologen nicht. Dies bleibt wohl Gegenstand weiterer Studien.

Sabine Aßmann, science.ORF.at
->   Marine Biological Laboratory
->   Department of Molecular and Cellular Biology (Harvard University)
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01.01.2010