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Forscher vs. Archivare  
  Hinter den nun in Wien aufgetauchten Gestapo-Akten verbirgt sich ein strukturelles Problem der Zeitgeschichts-Forschung: Archivare und Forscher verhalten sich oft eher wie Rivalen denn wie Kooperationspartner.  
Lange verschollen geglaubt, nun entdeckt
Jahrzehnte lang galt die Kartei der Gestapo-Leitstelle Wien als verschollen. Nun hat sie der Historiker Thomas Mang, ein Dissertant der Universität Wien, doch noch entdeckt. Er hat - eigentlich naheliegend - einfach im Stadt- und Landesarchiv der Bundeshauptstadt nachgesehen.
Archivare sollen archivieren ...
Dass die Kartei erst jetzt auftaucht, ist zumindest für den Laien erstaunlich: behaupten doch zum einen zahlreiche Zeithistoriker, seit Jahren danach gesucht zu haben; und behauptet zum andern der Leiter des Wiener Stadt- und Landesarchivs, Ferdinand Opll, die Kartei bereits seit 1975 zu verwahren. Hätte er, Opll, die Suchenden nicht informieren müssen?
... und Forscher sollen forschen?

Das Foto von Christian Broda, später Justizminister, in der Gestapo-Kartei
"Es kann nicht unsere Aufgabe sein, über alle Bestände Auskunft zu geben. Es wurde offenbar bei allen möglichen Stellen nachgefragt, aber bei uns nie," meinte Opll gegenüber dem ORF-Radio.

Das Wiener Stadt- und Landesarchiv habe Bestände von mehr als 35.000 Laufmetern vom frühen 13. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Würde man all das bekannt geben, wäre das erst recht wieder keine zielgerichtete Information, so Opll. Es sei Aufgabe der Forschung nachzufragen. "Das ist nun geschehen, wir stellen zur Verfügung."
Rivalität der beiden Zünfte
Hinter dieser Ansicht verbergen sich laut Siegfried Mattl strukturelle Probleme der Zeitgeschichts-Forschung: "Es besteht oft eine Rivalität zwischen Forschern und Archivaren, und leider gibt es in Österreich kein positives Archivgesetz," meinte der Historiker vom Institut für Zeitgeschichte der Uni Wien gegenüber science.orf.at.
Kein Auftrag zur Dokumentation
Archive hätten in Österreich keinen Auftrag zur zeitgeschichtlichen Dokumentation. Sie verstünden sich in erster Linie als Verwaltungsstellen, die der Selbstdokumentation des Behördenmaterials von Bund und Ländern dienen, so Mattl.

In den meisten anderen Ländern bestünde nach Ablauf einer zumeist 30-jährigen Sperrfrist eine Rechenschaftspflicht - die Pflicht, Akten der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. "In Österreich besteht diese Öffnungspflicht nicht, nach dem Archivgesetz entscheidet jede Behörde - nach Verstreichen einer 50-jährigen Sperrfrist - über die Veröffentlichungen", meint Mattl.

Historiker seien somit oft auf das Wohlwollen der zuständigen Archivbeamten angewiesen.
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Die Gestapo-Kartei
Die Kartei enthält genaue Personenbeschreibungen und Erkennungsdienst-Fotos von etwa 10.000 Menschen, die der Gestapo Wien in die Hände gefallen sind. Sie dokumentieren die Dimension des Gestapo-Terrors und enthalten auch exakte Angaben über die Verfolgungsgründe wie "staatsfeindliche Betätigung", verbotener Umgang mit Kriegsgefangenen, Homosexualität und Arbeitsvertragsbruch, der besonders NS-Zwangsarbeitern oft zum Verhängnis wurde. Eine Online-Publikation einer Auswahl der Daten auf der Homepage des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstands ist geplant.
->   Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands
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Historische Nullmeldung?
An und für sich hält Mattl die nun gefundenen Gestapo-Akten für eine "historische Nullmeldung". Die Zahl der von den Nazis Verfolgten, Verurteilten und Ermordeten sei bekannt.

Viel eher müsse man sich fragen, wieso die Archive nicht von sich aus auf ihre Dokumente aufmerksam machten. "Spätestens 1988, als es die große Ausstellung der Stadt Wien zum Gedenkjahr '50 Jahre NS-Zeit' gegeben hat, hätte dies vom Stadt- und Landesarchiv angeboten werden müssen", so Mattl

Prinzipiell sei der Wille zur Kooperation seit der Einrichtung der Historikerkommission aber besser geworden, mit Änderung des politischen Willens sind zahlreiche neue Dokumente der Nazizeit aufgetaucht.

Lukas Wieselberg
Auch Christian Broda in der Kartei
 


Unter den Karteikarten finden sich auch solche von später prominent gewordenen Gestapo-Häftlingen, wie jene des späteren Justizministers Christian Broda (SPÖ).
->   Mehr zur Entdeckung der Gestapo-Kartei
->   Wiener Stadt- und Landesarchiv
->   Institut für Zeitgeschichte, Uni Wien
->   Das Wiener Archiv-Gesetz
 
 
 
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01.01.2010