News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Medizin und Gesundheit 
 
Freie Radikale: Doch nicht Ursache von Zellschäden?  
  Eine aktuelle Studie könnte 30 Jahre medizinischer und pharmazeutischer Forschung mehr oder weniger über den Haufen werfen: So genannte Freie Radikale gelten als Ursache für vielfältige Schädigungen in Körperzellen. Weil sie damit der Entstehung schwerer Erkrankungen Vorschub leisten sollen, basiert ein ganzer Reigen von Medikamenten auf ihrer Unschädlichmachung. Doch die kleinen Moleküle werden möglicherweise zu Unrecht verdächtigt, meinen nun britische Wissenschaftler - und fordern eine Neubewertung gängiger Theorien und Therapien.  
Wie die Wissenschaftler um Anthony Segal vom University College London in "Nature" berichten, sind die so übel beleumundeten Freien Radikalen lediglich Nebenprodukt einer recht komplexen Reaktionskette.

Und hier könnte demnach auch der eigentliche Verursacher jener Schädigungen im Körper zu finden sein.
...
Der Artikel "The large-conductance Ca2+-activated K+ channel is essential for innate immunity" ist erschienen in "Nature", Bd. 427, Seiten 853 - 858, Ausgabe vom 26. Februar 2004 (doi:10.1038/nature02356).
->   Abstract des Artikels in "Nature"
...
"Lehrmeinung": Freie Radikale verursachen Erkrankungen
Das Urteil fällt reicht eindeutig aus: Freie Radikale spielen zwar durchaus eine wichtige Rolle in ganz normalen physiologischen Prozessen. Beispielsweise geht man davon aus, dass jene hochreaktiven Moleküle schädliche Eindringlinge wie Bakterien zerstören können.

Doch weil sie so toxisch sind, gelten sie auch als höchst gefährlich für völlig gesunde Körperzellen. Sie können demnach Zellkerne, Erbgut, Zellmembranen oder auch Blutgefäße schwer schädigen - und damit maßgeblich zur Entstehung von diversen schweren Erkrankungen beitragen.
Medizinische Forschung gegen Freie Radikale
Kein Wunder, dass sie seit den 1970er Jahren im Blickpunkt der medizinischen Forschung stehen. Eine ganze Reihe von Medikamenten wurde entwickelt, um die Produktion jener Freien Radikalen zu unterbinden bzw. diese mit Hilfe so genannter Antioxidantien unschädlich zu machen.

Und weil die kleinen Moleküle dank ihrer toxischen Wirkung auch ihren Beitrag zur Alterung leisten sollen, stehen sie etwa auch als Inhaltsstoffe so genannter Lifestyle-Medikamente hoch im Kurs.
Neue Studie: Völlig falsche Annahmen
Doch was, wenn das ganze Theoriegebäude rund um die Freien Radikalen auf einer Fehlannahme beruhen würde? Genau dies behaupten nun die britischen Wissenschaftler, die jene Prozesse in Zellkulturen genauer untersucht haben.
Oxidative Verbrennungsprozesse in unserem Körper
In allen Zellen des Körpers laufen beständig oxidative Verbrennungsprozesse ab, die den Zellen die benötigte Energie liefern. Die geschieht durch An- und Abkoppeln von Elektronen, Atom- und Molekül-Bestandteilen an Sauerstoff. Dabei (sowie durch weitere Faktoren bzw. Umstände wie etwa UV-Strahlung) können allerdings auch hochreaktive Formen von Sauerstoff entstehen. Einige dieser Produkte werden als Freie Radikale bezeichnet.
Entscheidend für die Abwehr von Mikroben
Freie Radikale werden demnach unter anderem von bestimmten weißen Blutkörperchen, den Granulocyten gebildet. Der zugrundeliegende Mechanismus gilt tatsächlich als entscheidend für die körpereigene Abwehr von gefährlichen Mikroben:

"Menschen, bei denen dieser Prozess gestört ist, sind anfällig für schwere, chronische und häufig tödliche Infektionen", erklärt Studienleiter Segal in einer Aussendung des University College London den Zusammenhang.
Ableitung: Freie Radikale selbst sind toxisch
Aus dieser Tatsache habe man abgeleitet, dass die Freien Radikalen selbst hochgradig toxisch seien - und dass sie, wenn sie so widerstandsfähige Organismen wie Bakterien und Pilze abtöten, auch menschliches Gewebe schädigen könnten.
Neue Studie: Protease tötet die Eindringlinge
Das allerdings ist laut Segal und Kollegen ein Fehlschluss. Der eigentlich entscheidende Mechanismus ist demnach Folge einer ganzen Kette von Reaktionen. Schlüsselfaktor: das Enzym NADPH-Oxidase, das auch für die Bildung der Freien Radikalen verantwortlich ist.

Darüber hinaus aktiviert der Eiweißstoff aber auch - über einen spezifischen zellulären Kaliumionenkanal - eine so genannte Protease: ein weiteres Enzym, das andere Eiweiße angreifen und zerstören kann.

Diese Protease schließlich ist der eigentliche Akteur, glaubt man den britischen Forschern. Sie tötet demnach die schädlichen Mikroben im menschlichen Körper ab.
...
In-vitro-Nachweis: Blockade setzt Abwehr außer Kraft
Den Nachweis wollen die Wissenschaftlern mithilfe einer chemischen Substanz erreicht haben. Diese blockierte den die Protease regulierenden Kanal - und die betroffenen Zellen waren unfähig, die gefährlichen Eindringlinge zu bekämpfen.
...
Folgerung: Auch weitere Annahmen könnten falsch sein
Dieses Ergebnis aber hat nach Ansicht der Wissenschaftler eine Bedeutung, die über die Bestimmung des eigentlichen molekularen Mechanismus der körpereigenen Abwehrreaktion hinaus geht:

Denn haben die Forscher mit ihrer Behauptung recht - wie weitere Studien zeigen könnten - dann wankt jene Grundannahme, die laut Segal auch dazu geführt hat, dass die Freien Radikalen als Verursacher so schwerer Erkrankungen wie Krebs gesehen wurden.

Die Freien Radikalen wären vielleicht bei weitem nicht jene hochtoxischen Moleküle, als die sie derzeit angesehen werden.
"Grundlegende Theorie ist fehlerhaft"
"Unsere Arbeit zeigt, dass die grundlegende Theorie zur Toxidität der Sauerstoffradikalen fehlerhaft ist", heißt es dazu in der Aussendung. Und: "Viele Patienten verwenden möglicherweise teure antioxidative Medikamente, die auf völlig falschen Theorien basieren."

Der Schluss lautet denn auch: "Alle Theorien, die sich auf die Entstehung von Krankheiten durch Freie Radikale beziehen, sowie der therapeutische Wert von Antioxidantien müssen - allermindestens - neu bewertet werden."
->   University College London
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   Tibeter haben Gen-Schutz gegen Sauerstoffmangel (19.2.04)
->   Schlaf gegen Krebs - Melatonin als "Radikalenfänger" (1.10.03)
->   Wissenschaftler warnen vor "Anti-Aging-Hype" (22.05.02)
->   Tee als Gesundmacher seit 6.000 Jahren genutzt (16.2.01)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Medizin und Gesundheit 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010