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Von Franco zu Aznar: Spaniens radikaler Wandel  
  Spanien gilt knapp 30 Jahre nach Francos Tod als gefestigte Demokratie und starkes Mitglied der EU. Die eben erschienene Neuauflage des Standardwerks "Spanien heute" ermöglicht einen umfassenden Einblick in die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen Spaniens in den letzten drei Jahrzehnten - bis hin zur "Ära Aznar".  
Von der "transición" zur Ära Aznar
Mit der vierten, vollständig neu überarbeiteten Auflage des mittlerweile auf über 800 Seiten angewachsenen Buches "Spanien heute" haben die deutschen Spanien-Experten Walther L. Bernecker (Historiker an der Uni Erlangen) und Klaus Dirscherl (Romanist der Uni Passau) erneut ein Standardwerk vorgelegt, das wissenschaftlich fundiert die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umwälzungen in Spaniens zwischen der Ära der "transición" und der Amtszeit des 2004 aus dem Amt geschiedenen Premiers José-Maria Aznar beschreibt.

Das Werk ist für Politikwissenschaftler, Hispanisten und Journalisten ebenso von Wert wie interessierte Laien. Trotz umfangreichen wissenschaftlichen Apparats, zahlreicher Grafiken und Statistiken ist "Spanien heute" alles andere als ein trockenes Machwerk.
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Spanien heute. Politik - Wirtschaft - Kultur, hrsg. Von Walther L. Bernecker und Klaus Dirscherl, 4. vollständig neubearbeitete Auflage, Frankfurt: Vervuert-Verlag 2004. 46,30 Euro.
->   Weitere Informationen zum Buch beim Verlag
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Historisches Spannungsfeld
Die Aufmerksamkeit des Bandes liegt auf einem zentralen Moment der spanischen Zeitgeschichte: der Spannung zwischen Zentrum und Peripherie. Erinnert wird gerade daran, dass bis in die 1950er Jahre das Baskenland und Katalonien die einzigen Industriegebiete Spaniens waren.

Die während der Franco-Zeit unterdrückten regionalen Autonomiebestrebungen waren schließlich eine der großen Herausforderungen und Hürden am Übergang zur Demokratie. Die Verfassung von 1978 bedeutete dabei den zentralen Eckpfeiler für ein demokratisches Spanien und damit die "Heimkehr" Spaniens nach Europa durch den EG-Beitritt 1986.
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Nationalstaat oder multiethnischer Staat?
"Der Konsenscharakter der Verfassung, eine der Voraussetzungen für die bislang hohe Zustimmung in der Bevölkerung, hat eine gewisse Offenheit und Unbestimmtheit in den einzelnen Bereichen zu Folge", erinnert Harald Barrios in seinem Beitrag über die "Gründzüge des politischen Systems Spaniens": "Dies gilt beispielsweise für die Frage, ob sich Spanien als Nationalstaat oder multiethnischer Staat versteht." (S.54)
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Eintritt in die Europäische Gemeinschaft
Der Eintritt Spaniens in die Europäische Gemeinschaft (bzw. später EU) bedeutete, wie Walther Bernecker erinnert, "einen tiefen historischen Einschnitt nach Phasen bewusst-erwünschter oder abgrenzend-erzwungener Isolierung".

Die Mitgliedschaft im Haus Europa beendete einen jahrzehntelangen politischen Sonderweg.
Entwicklungsfortschritte: Von Gonzalez bis Aznar
Spanien konnte in den letzten Jahrzehnten bedeutende Entwicklungsfortschritte verbuchen. Diese Bilanz können die Autoren unter die Ära der Premiers Felipe Gonzalez wie unter jene von Jose-Maria Aznar ziehen.

Trotz weltanschaulicher Unterschiede brach der konservative Aznar (Partido Popular) in wirtschaftlichen Fragen keineswegs radikal mit der Politik seines sozialistischen Vorgängers aus der PSOE - schon Gonzalez hatte ja eine vor allem auf pragmatische Erwägungen gestützte Politik betrieben (siehe NATO-Beitritt Spaniens u.ä.).

Mit dem Aufschwung einher ging die gesteigerte Rolle, die Spanien nicht nur in der Europa, sondern auch Weltpolitik spielen wollte.
Anspruch auf führende Rolle in der Welt
"Seit dem Beginn der zweiten Amtszeit Aznars (2000) kristallisierte sich immer deutlicher der Anspruch der rechtskonservativen Regierung auf einen Platz unter den weltweit bedeutendsten Staaten heraus", erinnert man in dem Beitrag zur Außenpolitik Spaniens.

Dieser Anspruch habe aber das Verhältnis Spaniens gerade zu seinen europäischen Nachbarn oft sehr belastet (man denke nur an die hartnäckige Rolle der Regierung Aznar im Winter 2003 bei der Debatte um eine neue EU-Verfassung).
"España va bien"
Der Wirtschaftsaufschwung der letzten Jahre in Spanien stärkte den politischen Kurs Spaniens der Ära Aznar, der, nach den Skandalen und Affären der Ära Gonzales, auf die simple Formel "España va bien", "Spanien geht es gut" gebracht wurde.

Der gerade von Aznar ventilierte Spanien-Patriotismus brachte einen historischen blinden Fleck zu Tage. Aznars Partido Popular konnte sich bisher nicht dazu durchringen, den Militärputsch gegen die Zweite Republik in Spanien und den die darauf folgende Diktatur von General Franco zu verurteilen.

Die öffentliche Bewältigung des tiefsten Traumas der spanischen Gesellschaft kam spät - für manche zu spät.
Ethischer Nationalismus und ETA
Breiten Raum in "Spanien heute" nehmen die immer noch ungelösten Probleme zwischen Madrid und dem Baskenland ein. Für Walther L. Bernecker liegt dem Konflikt um Nationalismus im Baskenland und den Terror der ETA die Spannung zwischen Zentralstaat und regionaler Autonomie einerseits zu Grunde.

Andererseits konstatiert Bernecker in der baskischen Gesellschaft eine immer noch nicht bewältigte Entfremdungserfahrung aufgrund der schubhaften Industrialisierung im 19. Jahrhundert.

Die Rückbesinnung der Basken auf ihre eigenen Wurzeln ist durchdrungen von zahlreichen Fiktionen und Stilisierungen. Das Wort "Euskadi" für das Baskenland ist letztlich auch eine Erfindung der baskisch-nationalistischen Renaissance.
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Ethischer Nationalismus des Baskenlandes
"Der ethische Nationalismus des Baskenlandes", schreibt Bernecker, "beruht auf der traditionellen Konfliktachse Zentrum - Peripherie, die seit Erlass des Autonomiestatuts (1979) zu einer innerbaskischen Problemlage geworden ist."

Die Spannung zwischen dem kastilischen Zentrum und der baskischen (aber auch katalanischen) Peripherie erklärt der Autor wirtschaftshistorisch: "Die wirtschaftlich entwickelteren Randzonen waren politisch dem Regierungssitz Madrid untergeordnet. Am Beispiel des Baskenlandes lässt sich der zunehmende Entfremdungsprozess zwischen Madrid und den peripheren Regionen des Landes sowie die wachsende Bedeutung des Nationalismus in der Auseinandersetzung mit der Zentrale aufzeigen", so Bernecker.
->   Bernecker-Artikel: Ethischer Nationalismus und Terrorismus im Baskenland
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Kultur, Medien, Intellektuelle
Breiten Raum im letzten Teil des Bandes nimmt die Kultur- und Medienpolitik ein. Die Ära der "transición" hatte vor allem für das intellektuelle Feld Spaniens große Auswirklungen. Die Entwicklungen in diesem Bereich werden in einigen Beiträgen mit beinahe (feld-)soziologischer Akribie beschrieben.

Eine besondere Rolle für die intellektuellen Debatten nehmen die Printmedien ein, die in Spanien im Vergleich zu anderen Ländern etwa im Bereich der Literatur überdurchschnittlich stark den Diskurs (ja sogar, wie gezeigt wird, bestimmte literarische Formen) bestimmen.

Was neben der sehr gründlichen Darstellung der Entwicklung der Tagespresse seit Francos Tod freilich fehlt, ist ein Blick auf die spanische Fernsehlandschaft. Diese wird in "Spanien heute" leider nur kursorisch gestreift.
Der spanische Film
Dafür dürfen sich Cineasten freuen. Gewürdigt werden nicht nur Filmschaffende im Schatten des beinahe überdominanten Pedro Almodóvar - "Spanien heute" ermöglicht auch einen Einblick in die institutionellen Rahmenbedingungen (Produktionsfirmen, Verleiher, Kino-Gewohnheiten, Preise) des Filmschaffens in Spanien.

Gerald Heidegger, ORF.at

Links zu den Herausgebern:
->   Walther L. Bernecker (Uni Erlangen)
->   Klaus Dirscherl (Uni Passau)
 
 
 
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01.01.2010