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Jüdisches Museum Prag: Mahnmal oder Beuteschau ?  
  Heute rühmt sich das Jüdische Museum Prag, eine der größten Sammlungen von Judaica zu besitzen. Die Kultgegenstände zeugen jedoch von Deportation und Mord. Ein neues Buch von Dirk Rupnow arbeitet die zwiespältige Geschichte des Museums auf.  
Im Jahr 1942 entstand in Prag eine makabere Sammlung: Was die Nazis als "Jüdisches Zentralmuseum" bezeichneten, waren die Hinterlassenschaften von deportierten Juden und aufgelösten Kultusgemeinden.
Die Vorgeschichte
Die Geschichte des Jüdischen Museums in Prag beginnt 1906. Als man das alte jüdische Ghetto sanierte, wurden mehrere Synagogen geschlossen und deren Kultgegenstände als kleine Ausstellung aufbewahrt.
Heutiges Museum wurzelt in der NS-Zeit
Wie sich das Museum heute präsentiert, geht auf die Zeit der NS-Herrschaft zurück. Als im nationalsozialistischen Protektorat Böhmen und Mähren systematisch die Juden ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert wurden, überlegten die Besatzer, was mit den religiösen Wertgegenständen geschehen sollte, sagt der Berliner Historiker Dirk Rupnow.
Diese konnten nicht wie Wohnungen, Schmuck oder Konten "arisiert" werden. Für die tausenden Bücher und Kultobjekte fand sich eine Lösung, die der Bürokratie der Vernichtungsmaschinerie entsprach: Vor ihrer Deportation mussten die tschechischen Juden ihr religiöses und kultisches Hab und Gut auflisten, verpacken und nach Prag schicken ¿ praktisch als ihre eigenen Nachlassverwalter.
Inventarisierung und Archivierung
Im August 1942 begannen jüdische Wissenschafter mit der Inventarisierung der einlangenden religiösen Wertgegenstände. Tausende Bücher, Torah-Rollen, Gebetsmäntel, Manuskripte und Kultgegenstände sammelten sich an. Sie wurden gelagert, in Schaukästen gestellt oder für symbolisierte Szenen aus dem jüdischen Alltag verwendet, Wachspuppen dienten der Veranschaulichung.
Doch auch wenn es die Bezeichnung Museum erhalten hatte, öffentlich zugänglich war das "Jüdische Zentralmuseum" nicht. Es wurde nur von NS-Funktionären und Prager SS-Leuten betreten, sagt der Historiker Rupnow.
Wer war der Urheber?
Wessen Idee die Gründung des Zentralmuseums war, lasse sich nur schwer beantworten, sagt Rupnow. Bisher gebe es keinen Hinweis dafür, dass dieses Museum in Berlin überhaupt bekannt war.

Einen "Masterplan" darüber, wie sich der NS-Staat nach dem "Endsieg" an die Juden erinnern wollte, habe es nicht gegeben. Für die Abwicklung des "Jüdischen Zentralmuseums" zuständig war Eichmanns Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Prag.
Die Rolle der Mitarbeiter
Die Mitarbeiter und Wissenschafter des Museums waren Juden. Von 44 Mitarbeitern, so Rupnow, hat nur eine Kunsthistorikerin überlebt, die spätere Direktorin. Alle anderen wurden ermordet.

Wurden die jüdischen Museumsfachleute von den Nationalsozialisten instrumentalisiert oder ging die Initiative zum Sammeln und Archivieren auch von ihnen aus? Ohne das Zentralmuseum wären Wertgegenstände aus Metall vermutlich eingeschmolzen worden und somit verloren gegangen.
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Judentum als museales Objekt
Die Interessen von Tätern und Opfern, von SS und Juden, schlossen sich scheinbar nicht aus, meint der Historiker Rupnow: "Von jüdischer Seite ist es der Versuch gewesen, die Kultobjekte zu bewahren und damit gleichzeitig ein Gedächtnis oder eine Erinnerung an die vernichteten Gemeinden zu bewahren".

Das Interesse der Deutschen war es auch, Dinge zu bewahren ¿ aber für eine museale Präsentation "des Juden" nach der "Endlösung". Damit sollte wohl der "Feind", der für das nationalsozialistische Gedankengebäude grundlegend war, auch nach seiner Vernichtung präsent bleiben
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Mahnmal oder ¿Beuteschau¿?
Was bleibt vom Zentralmuseum - eine nationalsozialistische Beuteschau, ein Depot, ein Mahnmal? Erst 1946 wurde die Sammlung öffentlich zugänglich. Das Jüdische Museum in Prag als Nachfolger des Zentralmuseums präsentiert sich heute fast unverändert, nur wenige Objekte wurden restituiert, sagt Dirk Rupnow
In der Pinkas-Synagoge stehen die Namen der fast 80.000 ermordeten tschechischen Jüdinnen und Juden an der Wand geschrieben - zum Gedenken an die Opfer des NS-Regimes und die ursprünglichen Besitzer der Ausstellungsobjekte.
->   Jüdisches Museum Prag
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Buchtipp
Im neu erschienenen Buch "Täter-Gedächtnis-Opfer. Das jüdische Zentralmuseum in Prag 1942-1945" beschreibt der Berliner Historiker Dirk Rupnow die Entstehung des Museums und versucht den jeweiligen Kontext (vor 1938, zwischen 1942 und 1945, nach 1946) zu beleuchten. 231 Seiten, 15 Abbildungen, Picus-Verlag. Kosten: 307,- öS.
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Dirk Rupnow arbeitet derzeit zum Thema "Vernichten und Erinnern im 'Dritten Reich'" an einem Forschungsprojekt des Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK).
->   IFK
Der Historiker Rupnow forscht auch im Auftrag der Historikerkommission der Republik Österreich zum Thema ¿Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung als Beraubungsinstitution¿.
->   Historikerkommission der Republik Österreich
Barbara Daser/Dimensionen-Ö1
 
 
 
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01.01.2010