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Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
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Der Gelehrte als Antiheld  
  Weltfremdheit und Abgehobenheit sind Eigenschaften, die dem Gelehrten immer wieder vorgeworfen werden. Die Vorliebe für die Welt des abstrakten Denkens war im Verlauf der europäischen Kulturgeschichte stets Anlass für Karikaturen und Parodien. Der Gelehrte wird dabei als Antiheld präsentiert, der sich in der Alltagswelt nicht zurecht findet.  
Der ironische Kommentar begleitet den Gelehrten seit der Antike. Bezeichnend dafür ist der Bericht über den Philosophen Thales von Milet, der den Himmel betrachtete und dabei in eine Zisterne gefallen war.

Eine thrakische Magd beobachtete diesen Vorfall, lachte darüber und kommentierte ihn so: "Die Dinge des Himmels versuchst du zu erkunden; was vor deinen Füßen liegt, bemerkst du nicht".
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Sendungshinweis: Radiokolleg - "Der gelehrte Narr"
Mehr zum Gelehrten als Antiheld erfahren Sie in der Sendung "Radiokolleg" in Radio Österreich 1: Montag, 5. April, bis Donnerstag, 8. April 2004, jeweils um 09.30 Uhr in Ö1.

Buchhinweis: Hand Blumenberg, "Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie", suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Band 652 (ISBN: 3518282522).
->   Radio Österreich 1
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Der gelehrte Narr in Japan
Der gelehrte Narr taucht auch in anderen Kulturen auf: So zeichnet der japanische Schriftsteller Natsume Soseki in seinem Roman "Ich der Kater" das Bild einer Gelehrtenkultur, die sich darin erschöpft, überlebtes Bildungsgut zu referieren.
Der Kater als wissenschaftlicher Beobachter
In diesem Roman wird ein Kater vorgestellt, der im Haushalt eines Mittelschullehrers lebt.

Dort lernt er einen illustren Gelehrtenkreis kennen: einen Spezialisten für Ästhetik, einen Bakkalaureus der Naturwissenschaften, einen selbsternannten Dichter und einen Philosophen und Anhänger des Zen-Buddhismus.

Die gelehrten Diskurse behandeln den Zusammenhang zwischen "Schüttelfrost und Puppentheater", das "Hängen am Kopfe im Lichte der Mechanik" oder auch die "Bedeutung der Nasen für das menschliche Gesicht".
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Die Nase des Julius Caesar als Prachtexemplar
"Es steht außer Frage, dass Julius Caesars Nase ein Prachtexemplar gewesen ist. Würde man jedoch Caesars Nase mit einer Schere abschneiden und der Katze hier ins Gesicht pflanzen, was wäre dann das Resultat? Wenn unterhalb von einer Fläche von der Größe einer Katzenstirn die scharfe Nase eines Helden hervorstäche, wäre die Impression dieselbe, wie wenn man den großen Buddha von Nara auf ein Go-Brett verpflanzen würde."

Natsume Soseki: "Ich der Kater", Japanische Bibliothek, Insel Verlag, übersetzt von Otto Putz (ISBN: 3458344675).
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Gelehrtensatire als Selbstkritik
Die Gelehrtensatire versteht der in Freiburg lebende Philosoph und Literaturwissenschaftler Ludger Lütkehaus keineswegs als bloße Verhöhnung der Wissenschaftler.

Sie ist vielmehr von der Einsicht getragen, dass jede intellektuelle Tätigkeit einer gewissen Skurrilität nicht entbehrt. Friedrich Nietzsche ist für Lütkehaus ein gutes Beispiel eines Philosophen, der sich der Ambivalenz seiner Tätigkeit durchaus bewusst war.
Satire der reinen Kopfarbeit
In seiner Schrift "Schopenhauer als Erzieher" sieht Nietzsche die grundsätzliche Narrheit des Gelehrten darin, jegliche Erfahrung in "eine reine Kopfarbeit" zu übersetzen.

Der Eindruck der Sinne, die Qualität des Fühlens oder der ästhetische Genuss würden dem Götzen der Vernunft geopfert, der den Menschen ausdorre, sodass er "bald fast nur noch mit den Knochen klappere".
Phänomenologie des Gelehrten
Nietzsche entfaltet eine Phänomenologie des Gelehrten und seiner Narrheiten: Dazu zählen Eitelkeit, Pedanterie, Neigung zu entlegenen Forschungsgebieten, Achtung vor dem Mitgelehrten, gewohnheitsmäßiges Fortlaufen auf der einmal beschrittenen Laufbahn und Treue zu den akademischen Lehrern.

Der durchschnittliche Gelehrte ist dann meist ein Produkt dieser Eigenschaften.
Die Akademie von Lagado
Die klassische Gelehrtensatire, die nicht den einzelnen Gelehrten im Blick hat, sondern die gesamte Organisationsform der Akademie, findet sich in Jonathan Swifts Roman "Gullivers Reisen".
Dort erscheint die Akademie von Lagado als ein "Königreich der Absurditäten", in dem selbst die unsinnigsten Projekte mit großem Eifer verfolgt werden.
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"Dort lernte ich einen genialen Architekten kennen, der eine neue Methode zum Bauen von Häusern erfunden hatte. Er fing beim Dach an und führte den Bau von oben nach unten bis zu den Grundmauern durch. Er bewies mir die Stichhaltigkeit seines Verfahrens, indem er mich an die Bauweise der Spinnen und Bienen erinnerte."

Jonathan Swift: "Gullivers Reisen", Patmos Verlag, übersetzt von Kurt Heinrich Hansen (ISBN: 3491961149).
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Politisches Programm der Akademie von Lagado
Die Akademie der Wissenschaften in Lagado ist nicht nur für geistes- und naturwissenschaftliche Projekte zuständig, sie hat auch erstaunliche Pläne, um die ständig miteinander im Streit liegenden politischen Parteien zu versöhnen:

"Jeder Parlamentarier solle, nachdem er seine Meinung dargelegt und bewiesen habe, seine Stimme in genau entgegengesetztem Sinne abgeben. Täten das alle, dann würde die Endabstimmung unfehlbar zum Besten der Nation ausfallen."
Bouvard und Pecuchet: Zwei Privatgelehrte
Ein Großteil der von Nietzsche angeführten Komponenten des gelehrten Narren findet sich in Gustave Flauberts Roman "Bouvard und Pecuchet".

Darin ziehen sich die zwei Titelhelden Bouvard und Pecuchet aufs Land zurück und beginnen dort vorerst ein Studium des Gartenbaus und der Landwirtschaft, wenden sich dann der Geologie, Archäologie, Medizin, und schließlich den Literaturwissenschaften und der Philosophie zu.
Scheitern und großes Gelächter
Das wissenschaftlich-enzyklopädische Projekt scheitert an dem Irrglauben, Wissen durch Inventarisierung zu erlangen.

Bouvard und Pecuchet streben nicht nach Weisheit, sondern leiden an der Sucht nach Klassifizierung, der in der Wissenschaft weit verbreitet ist. Sie sehen die Verrücktheit ihres Unternehmens ein und quittieren es mit einem großen Gelächter.

"Und bei der Lachsalve, die Bouvard ertönen ließ, hüpften ihm Schultern und Bauch im gleichen Rhythmus auf und nieder. Puterrot, röter noch als die eingemachten Früchte, die es zum Nachtisch gab, prustete er sein dröhnendes, geradezu aufreizend klingendes 'Ha, ha ,ha!'."

Nikolaus Halmer, Ö1-Wissenschaft
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Gustave Flaubert: "Bouvard und Pecuchet", übersetzt von Hans-Horst Henschen, Eichborn Verlag (ISBN: 3458335617).

Weitere Literatur zum Thema:
Alexander Kosenina: "Der gelehrte Narr. Gelehrtensatire seit der Aufklärung", Wallstein Verlag (ISBN: 3892445311).
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01.01.2010