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Verhalten als Kulturprodukt: "Flower Power" bei Pavianen  
  Paviane gelten unter den Primaten als ausgesprochene Raubeine. Aggressive Verhaltensweisen stehen bei ihnen an der Tagesordnung, nicht selten nehmen die ausgefochtenen Rangordnungskämpfe einen blutigen Ausgang. Zwei US-amerikanische Forscher haben nun eine überraschende Entdeckung gemacht: Sie fanden die erste Pavian-Population, in der aggressives Verhalten dauerhaft durch Friedfertigkeit abgelöst wurde. Damit konnten sie zeigen, dass das Sozialverhalten dieser Primaten sehr stark von den "kulturellen" Bedingungen der Gruppe abhängt.  
Wie Robert M Sapolsky und Lisa J. Share von der Stanford University berichten, war dieser Übergang durch den zufälligen Tod besonders streitbarer Männchen ausgelöst worden. Der Kuschelkurs wurde jedoch auch beibehalten, als neue Männchen in die Gruppe einwanderten. Man vermutet, dass dafür die Weibchen in der Gruppe verantwortlich sind.
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Der Artikel "A Pacific Culture among Wild Baboons: Its Emergence and Transmission" von Robert M Sapolsky und Lisa J. Share erschien am 13. April 2004 im Open-Access-Journal "PloS Biology" (Band 2, S. 0534-41).
->   Zum Originalartikel
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Verhalten bei Tieren: Angeboren ...
Tierisches Verhalten ist sehr oft durch das Erbgut determiniert: Einem Fisch muss man nicht beibringen, wie man schwimmt, ebenso weiß ein Vogel von selbst, wie er sein Nest zu bauen hat.

Wie die Pioniere der Ethologie in der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts herausgefunden haben, gibt es neben den starren - damals so genannten - Instinkten auch mannigfaltige Verhaltensformen, die durch die Umwelt geformt werden und als Basis für Lernen dienen können.
->   Mehr zur Ethologie bei Wikipedia
... und erlernt
Etwas später erst begann sich die Verhaltensbiologie mit Fällen zu beschäftigen, bei denen die genetische Basis nur mehr eine untergeordnete Rolle spielt. Insbesondere dann, wenn dem sozialen Lernen eine tragende Bedeutung zukommt.

So wurde etwa gezeigt, dass japanische Makaken Süßkartoffeln im Meer abwaschen und diese Fähigkeit an die nächste Generation weitergeben. Ähnliches gilt auch für die verschiedenen Formen des Werkzeuggebrauchs bei Schimpansen, Orang-Utans und Kapuzineraffen.

Ob man solchen Verhaltensweisen bereits den Status von "Kultur" zuerkennen will, ist im Grunde eine semantische Frage, da dies letztlich von der Breite oder Enge des verwendeten Kulturbegriffs abhängt.
Sozialverhalten bisher nicht kulturell gedeutet
Jedenfalls hat man bislang bei solchen biologischen Kulturstudien dem sozialen Gefüge relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt.

Dass Schimpansen und Paviane regelmäßig von körperlicher Gewalt Gebrauch machen, ist beispielsweise eine wohlbekannte Tatsache unter Verhaltensforschern. Ebenso, dass die mit den Schimpansen eng verwandten Bonobos viel friedliebender sind und zur Konfliktlösung lieber auf Sex denn auf Schläge zurückgreifen.

Solche Verhaltensweisen wurden aber bis dato eher unter der Kategorie "arttypisches Verhalten" eingeordnet und weniger mit (prä-)kulturellen Fähigkeiten in Zusammenhang gebracht.
Anubispaviane: Kämpfe erzeugen Stress
Robert M. Sapolsky und Lisa J. Share zeigten nun, dass die Angelegenheit nicht ganz so einfach ist. Sie beobachteten in den 1980er-Jahren eine Gruppe von Anubispavianen (Papio anubis) in Kenia, bei der die täglichen und bisweilen blutigen Rangordnungskämpfe zwischen den Männchen zu typischen Anzeichen von Stress - wie etwa erhöhtes Blutcortisol - führten.
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Zufällige Todesfälle veränderten Sozialverhalten
Zufällig infizierten sich die aggressivsten Männchen bei einem Abfalleimer einer nahe gelegenen Touristenhütte mit einer Form von Tuberkulose, an der sie in den Jahren 1983 bis 1986 verstarben. Diese Todesfälle änderten das Sozialverhalten drastisch, die Aggressionen nahmen - wie zu erwarten - deutlich ab.
->   Mehr zu Anubispavianen (www.primatis.de)
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Friedfertigkeit wurde beibehalten
Als Sapolsky und Share die Beobachtung der Paviangruppe im Jahr 1993 wieder aufnahmen, waren alle jungen Affen in andere Gruppen übergewechselt und durch neu hinzugekommene ersetzt worden.

Letztere stammten also sämtlich aus fremden, d.h. aggressiveren Sippen. Überraschenderweise war jedoch der Kuschelkurs von den Affen beibehalten worden, was durch den Vergleich von Stressanzeichen bei einer anderen Population auch physiologisch belegt wurde.
Mögliche Erklärung: Weibchen verantwortlich?
Die beiden Autoren bieten in ihrer Studie vier verschiedene Modelle an, die diesen Sachverhalt erklären sollen. Eines davon geht beispielsweise davon aus, dass die (generell bei der Sippe verbleibenden) Weibchen einen prägenden Einfluss auf das Gruppenverhalten hatten, indem sie Friedfertigkeit selektiv honorierten.
Verhalten von Geschichte abhängig
Gemeinsam ist diesen Modellen folgender wichtiger Punkt: Wie bei menschlichen Gesellschaften kann offensichtlich auch bei manchen tierischen Gruppen die eigene Geschichte das soziale Miteinander maßgeblich bestimmen.

Wie der renommierte Primatenforscher Frans de Waal von der Emory University in einem Begleitartikel schreibt, sei dies "der erste Nachweis im Freiland, dass auch Primaten den Flower-Power-Weg einschlagen können".
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Der Artikel "Peace Lessons from an Unlikely Source" von Frans B.M. de Waal erschien am 13. April 2004 im Open-Access-Journal "PloS Biology" (Band 2, S. 0434-6).
->   Zum Originalartikel
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"Sozialverhalten kann Kulturprodukt sein"
"Die Hauptpunkte dieser Entdeckung sind laut und deutlich folgende", so de Waal in seinem lesenswerten Kommentar:

"Das in der Natur beobachtete Sozialverhalten kann ein Kulturprodukt sein, und selbst für die grimmigsten Primaten gilt, dass sie nicht für immer auf diesem Weg bleiben müssen. Hoffen wir, dass das auch für die Menschheit zutrifft."

Robert Czepel, science.ORF.at
->   Stanford University
->   Website von Frans de Waal (Emory University)
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   Affen teilen Nahrung, um "Schnorrer" ruhig zu stellen (14.1.04)
->   Affen haben einen Sinn für Gerechtigkeit (17.9.03)
->   Das soziale Verhalten der Affen (20.6.03)
->   Schimpansen "vererben" Rollenstrukturen (28.4.03)
->   Soziale Verhaltensweisen bei Kapuzineraffen (14.4.03)
 
 
 
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01.01.2010