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Neuroethik: Debatte um die Manipulation des Geistes  
  Psychopharmaka werden nach aktuellen Studien nicht nur zur Behandlung von Krankheiten, sondern in vermehrtem Maße auch zur Verbesserung der geistigen Leistungsfähigkeit eingenommen. Eine Gruppe von Wissenschaftlern hat aus diesem Grund eine ethische Diskussion über die Modeströmung "Brain-Doping" vom Zaun gebrochen.  
Anlass dafür waren unter anderem Berichte, denen zufolge an manchen US-Universitäten bereits jeder sechste Student regelmäßig zu Aufmerksamkeit fördernden Medikamenten greift.

Ein Autorenkollektiv bestehend aus Psychologen, Neurowissenschaftlern und Ethikern fordert aufgrund des Trends zum "neurocognitive enhancement" eine öffentliche Debatte, die in der Ausarbeitung von Richtlinien münden soll.
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Der Artikel "Neurocognitive enhancement: what can we do and what should we do?" von Martha J. Farah et al. erschien in der Fachzeitschrift "Nature Reviews Neuroscience" (Band 5, S. 421-5; doi:10.1038/nrn1390).
->   Nature Reviews Neuroscience
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Botox, Viagra & Co.
Die morgendliche Tasse Kaffee, eine kleine Botox-Injektion zur Faltenglättung, für das Wochenende die Viagra-Pille:

Nicht immer verhält sich der menschliche Körper so, wie es dessen Besitzer gerne hätte. Dementsprechend muss man - so zumindest die Meinung von immer mehr Zeitgenossen - der eigenen Physis ein wenig unter die Arme greifen.
Trend: Zurichtung der Hirnfunktionen
Eine neue Dimension bei der systematischen Zurichtung des menschlichen Körpers machen führende Wissenschaftler um Martha J. Farah von der University of Pennsylvania nun bei unserem Denkorgan aus.

So werden etwa Neurochirurgie oder magnetische Stimulationen der Großhirnrinde immer häufiger zur Behandlung von psychischen Krankheiten eingesetzt. Und Schnittstellen zwischen Gehirn und Maschine befinden sich nicht länger in der Konzeptphase, sie werden bereits experimentell verwirklicht.
->   Brain-Computer-Interface gegen Querschnittlähmung (14.10.03)
Pillen für die grauen Zellen
Die größten Veränderungen auf diesem Gebiet ereignen sich nach Ansicht des internationalen Forscherteams jedoch in der Psychompharmakologie. Martha J. Farah und ihre Kollegen stellen fest, dass der Einsatz von Wirksubstanzen im Gehirn nicht länger auf rein therapeutische Zwecke beschränkt sei.

Ein Beispiel: Zur Behandlung der so genannten Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung ("Attention Deficit Hyperactivity Disorder", ADHD) wurde in den letzten Jahren das Präparat "Ritalin" eingesetzt, das den Dopamin-Haushalt im Gehirn verändert.

Neuerdings greifen jedoch auch vermehrt gesunde Menschen zu diesem Medikament, weil sie sich davon eine erhöhte geistige Leistungsfähigkeit erhoffen.
->   Ritalin Info Facts (nih.gov)
Brain-Doping greift zusehends um sich
Eine im Jahr 2000 veröffentlichte Studie ergab, dass an manchen US-amerikanischen Schulen bzw. Universitäten bis zu 16 Prozent der Studierenden solche rezeptpflichtige Präparate verwenden.

Mit anderen Worten, der Trend geht weg von der medikamentösen Behandlung von Krankheiten - und hin zur Leistungssteigerung aus nicht-medizinischen Motiven. Fachleute sprechen in diesem Zusammenhang von "neurocognitive enhancement".
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Literatur-Tipps
Weitergehende Informationen zum Thema Neuroethik und "neurocognitive enhancement" erfährt man auf der Website des Cardiff Centre for Ethics, Law and Society sowie auf jener der New York Academy of Sciences.
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Gefahr: Transformation der Persönlichkeit
Der entscheidende Unterschied zu den bisher üblichen Eingriffen - wie z.B. Schönheitsoperationen - und dem nun um sich greifenden Brain-Doping betrifft den Begriff der Person.

Eine Nasenkorrektur verändere nicht, wer man ist, schreibt Farah in einer Aussendung: "Aber bin ich unter Ritalin-Einfluss die selbe Person wie ohne?"

Diese Frage sei umso dringlicher, als kaum Langzeitstudien über die Nebeneffekte dieser und verwandter Wirkstoffe existierten, betont Farah.
Wirkstoff verbessert Denkvermögen
Diskussionsbedarf orten die Autoren in ihrem Review-Artikel auch bei dem Präparat "Modafinil", das ursprünglich für die Behandlung von Narkolepsie zugelassen wurde.

Dessen Inhaltsstoff wirkt stimulierend, verbessert aber nach neuen Studien auch die allgemeinen Hirnfunktionen, wie etwa Gedächtnis oder Konzentrationsvermögen.
->   Modafinil bei Medline plus
Ethische Zwickmühlen
Von dieser Erkenntnis ausgehend entwickeln Farah und ihre Kollegen eine Reihe von hypothetischen Situationen, die künftige ethische Zwickmühlen aufzeigen sollen.

Was zum Beispiel, wenn Arbeitgeber dereinst ihre Angestellten zum systematischen Brain-Doping veranlassen? Solche Probleme seien noch relativ einfach durch rechtliche Schritte in den Griff zu bekommen, aber die Dinge können auch subtiler angelegt sein.

Dann etwa, wenn der Konkurrenzkampf in einem Arbeitsfeld so groß sei, dass man - in Analogie zum Spitzensport - ohne pharmazeutische Hilfsmittel schlichtweg nicht mehr reüssieren könne.
Politische Maßnahmen eingefordert
"Die Frage ist nicht, ob wir politische Maßnahmen brauchen, um das 'neurocognitive enhancement' zu lenken, sondern vielmehr welche Art von Politik", schreiben die Autoren in ihrem Bericht.

Notwendig sei in diesem Zusammenhang eine öffentliche Debatte, die es ermögliche, ethische Richtlinien zu entwerfen.

Diese steht freilich erst am Beginn, zumal noch gar nicht absehbar ist, welche Entwicklungen sich noch auf diesem Gebiet ergeben werden. Co-Autor Robert Cook-Degan von der Duke University beschreibt die Situation kurz und prägnant: "Zunächst Koffein, dann Modafinil. Und was kommt als nächstes?"

Robert Czepel, science.ORF.at
->   Website von Martha J. Farah (University of Pennsylvania)
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at
->   Der "Rainman" in uns: Verborgene Begabungen im Gehirn (1.4.04)
->   Forum Alpbach: Brain Computer Interfaces (18.8.03)
->   Brain-Doping: Kreatin stärkt die Muskeln und den Geist (13.8.03)
 
 
 
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01.01.2010