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Zu Zukunft und Nutzen der Geisteswissenschaften  
  Das Geld für Universitäten wird allerorts weniger. Die Folge für die Unis: In allen Disziplinen und Fachbereichen sucht man krampfhaft nach Sparpotenzialen. Und beim Sparen gibt es einen alten Kampf: Naturwissenschaften gegen Geisteswissenschaften. Letztere stehen stets unter dem Generalverdacht, kein nutzbares Wissen zu erzeugen. Wozu eigentlich Geisteswissenschaften? - das fragt auch die "Zeit" und versucht eine Standortbestimmung inmitten der Spardebatte.  
"Rettet euch selbst, sonst tut es keiner" - so lautet der Titel des provokanten Artikels des "Zeit"-Journalisten Martin Spiewak. Spiewak sieht die Geisteswissenschaften (GEWI) für die Zukunft schlecht gerüstet. Sie müssten sich ändern - oder untergehen, lautet seine These.

Das Problem ist demnach vor allem der Reform-Unwille der diversen GEWI-Disziplinen bzw. von deren Vertretern.
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Die insgesamt fünf Artikel zur Zukunft der Geisteswissenschaften sind erschienen in der "Zeit", Ausgabe vom 22. April 2004 (Seiten 45-48).
Martin Spwiewak: "Rettet euch selbst, sonst tut es keiner"
Ulrich Greiner: "Es ist die Kultur, ihr Trottel"
Achatz von Müller: "Selige Apathie"
Martin Seel: "Weltverstrickt"
Jörg Lau: "Gold unterm Rost"
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Hohe Studentenzahlen in Zeiten universitärer Finanznöte
"Nichts ist für die Geisteswissenschaften so beständig wie die Krise", schreibt Martin Spiewak in der "Zeit".

Er verweist allerdings zunächst auf die Studentenzahlen in den Sprach-, Kultur- sowie Sozialwissenschaften. Nie seien diese so hoch gewesen wie heute. Welche Krise also? Die - allgemein bekannte - Antwort lautet: Die Finanzen stecken in einer Krise.
Der Rotstift geht um an den Hochschulen
Es muss also gespart werden an den Universitäten - und gerade die Geisteswissenschaften geraten bei der somit ansetzenden Diskussion unter Beschuss.

"Heute muss Wissenschaft etwas nützen und dafür selbst den Beweis erbringen", erklärt Spiewak dazu. Er selbst hat im Übrigen Geschichtswissenschaft, Hispanistik und Staatsrecht studiert.

Mit anderen Worten: "Alle Disziplinen sehen sich mit der Frage konfrontiert: Was gibt die Wissenschaft der Gesellschaft zurück? Wer seine Existenzberechtigung nicht begründen, die Qualität von Forschung und Lehre nicht belegen kann, dem drohen Sanktionen."
Geisteswissenschaftlicher Unwille zur Reform
Doch die Geisteswissenschaften, so Spiewaks Kritik, verhalten sich - "bestenfalls" - abwehrend und defensiv bezüglich des Wettbewerbs um Geld, Aufmerksamkeit und einen bedeutenden Platz an den Hochschulen. Er sieht die Geisteswissenschaften ganz allgemein im "Schmollwinkel".

Dabei hätten sie mehr als alle andern Fächer Anlass zur Reform. Der Autor nennt hier unter anderem die hohen Zahlen an Studienabbrechern und verweist etwa auf den fehlenden Praxisbezug für einen Berufseinstieg außerhalb von Schule und Hochschule.
Die "Geschichte einer falsch gestellten Frage"
Der Historiker Achatz von Müller von der Universität Basel geht dagegen in seinem "Zeit"-Beitrag "Selige Apathie" einen ganz anderen Weg: Er verfolgt quer durch die Zeit die "Geschichte einer falsch gestellten Frage".

Dabei beginnt er durchaus kontrovers (wenn auch ironisch): "Die Geisteswissenschaften sind nutzlos. Und sie schämen sich dafür. Allerdings noch nicht sehr lange."

Geschichtlich betrachtet sieht das natürlich anders aus: Am Anfang aller Geisteswissenschaften stehe die Propagierung ihres außerordentlichen Nutzens, schreibt Achatz von Müller - und zitiert etwa die Schriften des Aristoteles.
Für die Friedensfähigkeit der Gesellschaft
Wie also hat das ausgesehen in den Frühzeiten der Wissenschaftstheorie? "Verstehen, Argumentieren, Unterscheiden waren die Fertigkeiten, die mit den mittelalterlichen Geisteswissenschaften erworben wurden."

Den (damaligen) Nutzen für die Gesellschaft bringt der Historiker recht humorig auf den Punkt: Stimuliert worden sei vor allem die Fähigkeit, Streitigkeiten zu entscheiden, ohne dass man sich dafür gegenseitig die Köpfe einzuschlagen brauchte.

Im Folgenden streift Achatz von Müller unter anderem das Hochmittelalter (Peter Abaelard) ebenso wie die Scholastik des Thomas von Aquin, den Humanismus und auch Aufklärung (David Hume und Adam Smith), Hegel und Nietzsche.
Reflexion über die Gesellschaft
Argumentiert wird letztlich für den Nutzen der Geisteswissenschaften für die Gesellschaft, indem sie als die Disziplinen der Reflexion über diese hervorgehoben werden. Der Historiker stützt sich etwa auf Wilhelm Dilthey, demzufolge die Herausforderung der Moderne in den gesellschaftlichen Krisen liegt.

"Die Erkenntnis der Kräfte, welche in der Gesellschaft walten ... ist zu einer Lebensfrage für unsere Zivilisation geworden. Daher wächst die Bedeutung der Wissenschaften der Gesellschaft gegenüber denen der Natur", zitiert Achatz von Müller den Philosophen.

Die Frage nach dem Nutzen erweise sich als sinnlos oder so sinnvoll wie die Frage nach dem Nutzen des Menschen, schreibt der Autor abschließend. "Das ist zugegebenermaßen ein grober Keil, aber das Ganze ist ja auch ein grober Klotz".
Über den Sinn der Geisteswissenschaften
Martin Seel wiederum, Professor für Philosophie an der Universität Gießen, versucht sich an einer Art erkenntnistheoretischem Diskurs - getitelt mit "Das Verstehen verstehen".

Verstehen, so Seel, sei etwas ganz Gewöhnliches und werde im Rahmen jedweder Handlung verlangt. "Denn Handelnde sind Verstehende. [...] Sie orientieren sich an Verständnissen, die ihnen Orientierung bieten."
GEWI-Domäne: Erforschung des Verstehens
Aus Verständnis und dem Bemühen um Verstehen besteht demnach die menschliche Welt. Die "Domäne der Geisteswissenschaften" aber ist, wie es Seel formuliert, die Erforschung dieses Verstehens.

"Diese Wissenschaften betreiben die gewöhnliche Reflexivität des Verstehens weiter, als es im Alltag nötig und möglich ist." Mit anderen Worten: Auch er sieht - wenig überraschend - den Nutzen oder Sinn der Geisteswissenschaften in der Reflexion.

Was die Geisteswissenschaften also nach Seel versuchen, ist "durch die Erkundung der Wirklichkeiten und Möglichkeiten menschlichen Verstehens" eine Art Orientierungen für menschliches Denken und Handeln zu bieten.
Problematischer Mangel an Selbstbewusstsein
Die teils recht konkreten Vorwürfe im einleitenden Artikel von Martin Spiewak - Stichwort "Reform-Unwille" - entkräften die beiden Wissenschaftler allerdings kaum, denn ihre Texte kreisen um die Antwort auf die Ausgangsfrage nach dem Nutzen ihrer Disziplinen.

Achatz von Müller immerhin verweist auf ein offenkundiges Problem der Geisteswissenschaften, das wohl im "Schmollwinkel"-Vorwurf des Spiewak-Textes enthalten ist: den neurotischen Mangel an Selbstbewusstsein.
Nur wenn man selber daran glaubt ...
Den sieht im Übrigen auch der "Zeit"-Journalist Ulrich Greiner in seinem Beitrag "Es ist die Kultur, ihr Trottel!":

"Es ist wahr, dass Geisteswissenschaftler selten einen selbstbewussten Eindruck machen. Man kann aber die Öffentlichkeit von der eigenen Bedeutung nur dann überzeugen, wenn man selber daran glaubt."

Mehr Selbstbewusstsein also als wäre demnach ein Schritt aus der vielzitierten Krise. Die Debatte aber um die Positionierung der Geisteswissenschaften wird wohl dennoch weitergehen - schließlich muss gespart werden an unseren Hochschulen.

Sabine Aßmann, science.ORF.at
->   "Die Zeit" - Wissenschaftsressort
->   Historisches Seminar der Universität Basel
->   Homepage Martin Seel (Universität Gießen)
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01.01.2010