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Geopolitische Herausforderungen der EU-Erweiterung  
  Wenn die EU am 1. Mai 2004 um zehn neue Länder erweitert wird, beginnt ein neues Kapitel europäischer Geschichte. Der Politologe Martin Lugmayr beschäftigt sich mit den geopolitischen Herausforderungen, welche die Europäische Union im Hinblick auf ihre neuen Nachbarn im Osten zu erwarten hat. Sein Schluss: Eine umfassende Sicherheits- und Entwicklungsstrategie ist nötig, die den Grundsätzen Risikokontrolle und Chancennutzung folgt - die neuen Mitgliedsländer könnten dazu entscheidend beitragen.  
"Wider Europe": Die östliche Dimension der EU-Erweiterung
Von Martin Lugmayr

Die Erweiterungspolitik, die sich in mehreren Etappen zum zentralen Pfeiler der EU-Krisenprävention entwickelt hat, ist mit einem grundsätzlichen Dilemma verbunden. Einerseits hat das Ausspielen der Beitrittskarte als Modernisierungs- und Reformhebel zur Stabilisierung der unmittelbaren Nachbarschaft in Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa nachhaltig beigetragen.

Andererseits rückt die erweiterte EU jedoch wieder näher an ökonomisch und politisch instabile Peripherien heran. Länder wie die Russische Föderation, die Ukraine, Weißrussland und Moldawien haben aufgrund vielschichtiger Gründe in absehbarer Zeit keine Perspektive auf einen EU-Beitritt. Sie bilden die zukünftige Nachbarschaft der erweiterten Europäischen Union.
Steigende Interdependenz und Interaktion
Durch die geographische Nähe wird das Niveau von Interdependenz und Interaktion zwischen der erweiterten Europäischen Union und der Region ansteigen. Die GUS-Länder werden für die EU durch zunehmende Handelsbeziehungen, steigenden Reiseverkehr, gegenseitige Minderheiten und Problemlagen ökonomisch und politisch wichtiger werden.

Das trifft insbesondere auf die Enklave Kaliningrad zu, die spätestens nach Auslaufen der Übergangsfristen zu einem unerwünschten Zaungast in einem freien europäischen Dienstleistungs- und Personenverkehr werden wird.
"Left overs" der Ostöffnung
Die Europäische Union wird durch die geographische Nähe vermehrt mit den "left-overs" der Ostöffnung und den Problemen des post-sowjetischen Raums konfrontiert werden. Die Auflösung des "Eisernen Vorhangs" hat eine Reihe von Asymmetrien bzw. Bruchstellen hinterlassen.

Während sich Westeuropa zum Wohlstands-, Friedens- und Machtzentrum entwickelt hat, ist der Kern des ehemaligen Ostblocks zur politisch und ökonomisch unterentwickelten Peripherie des Kontinents geworden. Während die Staaten in Ostmitteleuropa und Teilen Südosteuropas unter Anleitung der EU nachhaltige Reform-Fortschritte gemacht haben, verläuft die Transformation der GUS-Länder in anderen Bahnen.
Werden alte und neue Trennlinien ...
Ihr gegenwärtiger Stand der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwandlung gleicht einer Mischform zwischen Autokratie und Demokratie, zentraler Planwirtschaft und sozialer Marktwirtschaft sowie kontrollierter Gesellschaft und Zivilgesellschaft. Diese ungleiche Entwicklung hat aber auch eine nicht zu vernachlässigende kulturelle Dimension. Sie verläuft entlang alter kultureller Entwicklungslinien zwischen "östlichem" und "westlichem" Christentum.
... durch EU-Erweiterung vertieft?
Zum Teil droht die EU-Erweiterung (auch die NATO-Erweiterung) diese Trennlinien durch Erfordernisse der inneren Sicherheit bzw. die protektionistischen Natur der EU weiter zu vertiefen. Die Beitrittsländer mussten im Vorfeld der Erweiterung gegenüber zum Teil befreundeten Ländern diskriminierende Visa-Pflichten einführen (z.B. Polen und Ungarn gegenüber der Ukraine). Hinzu kommt, dass der Bezug von bestimmten Produkten aus der GUS-Region aufgrund europäischer Qualitäts-Standards eingeschränkt wird.
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Das Buch von Martin Lugmayr: "Österreich und die EU-Osterweiterung, maximale Chancen - maximale Risiken" ist im Peter Lang Verlag erschienen.
->   Peter Lang Verlag
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Weiche und harte Sicherheitsrisiken
Die Nachbarschaft der EU zur GUS-Region ist mit einer Reihe von weichen und harten Sicherheitsrisiken verbunden. Die ökonomische und soziale Desintegration, das Staatsversagen und die Transformationskrise korrelieren mit der Zunahme von Sicherheitsrisiken in der GUS-Region. Es besteht die Gefahr, dass die erweiterte EU verstärkt Unsicherheiten importiert und in Konflikte hineingezogen wird.

Es hat sich bereits in der Vergangenheit gezeigt, dass Krisen und Kriege in der unmittelbaren Nachbarschaft durch ihre Streuwirkungen in Form von Wirtschafts- und Kriegsmigration, organisierter Kriminalität, Umweltverschmutzung und Verbreitung von Infektionskrankheiten auch die Sicherheitsbalance der Europäischen Union in Frage stellen. Zudem verursachen die Unterbrechung wichtiger Rohstoff- und Handelswege, Kriseneinsätze und Wiederaufbauhilfe hohe Kosten.
Die EU-XXL braucht eine Ost-Strategie ...
Die östliche Dimension, die sich von der Barentssee bis zum Schwarzen Meer erstreckt, stellt die erweiterte Europäische Union vor weitreichende Herausforderungen, deren erfolgreiches Management mit der Weiterentwicklung einer gemeinschaftlichen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik in untrennbarer Verbindung steht. Die EU ist in den nächsten Jahren dazu angehalten, für ihre östliche Dimension eine umfassende und durchdachte Sicherheits- und Entwicklungsstrategie zu entwerfen, die den Grundsätzen Risikokontrolle und Chancennutzung folgt.
... neue Mitgliedsländer können dazu beitragen
Eine professionelle Auseinandersetzung mit den Macht- und Interessenslagen und den komplexen Interaktions- und Beziehungs- und Kulturmustern des Post-Sowjetischen Raums ist daher unumgänglich. Die neuen Mitgliedsländer haben die Gelegenheit, durch ihre historischen Beziehungen und ihr Ost-"know how" zum Aufbau analytischer Ost-Kapazitäten aktiv beizutragen. Ihr Beitrag wird mitentscheidend sein, ob die EU ein offenes oder ein verschlossenes Tor zum Osten sein wird.
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Martin Lugmayr ist Dissertant an der Leopold Franzens Universität Innsbruck. Sein Projekt wird am Institut für Politikwissenschaft von Heinrich Neisser betreut.
->   Homepage Martin Lugmayr
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Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Martin Lugmayr: Österreich und die EU-Erweiterung - Zukunftsinvestition oder geografische "Überdehnung"? (14.9.02)
->   Peter Biegelbauer: EU-Osterweiterung - Kurz- und langfristig gedacht (16.11.01)
->   ORF.at-Archiv zur EU-Erweiterung
 
 
 
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01.01.2010