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Gedenktag 5. Mai: Bisher eine vergebene Chance  
  Seit 1997 ist der 5. Mai in Österreich offizieller Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Im Vergleich mit anderen Ländern wird er hierzulande in der Öffentlichkeit wenig beachtet, meint die Historikerin Heidemarie Uhl in einem Gastbeitrag. Die offizielle Erinnerungskultur bedient sich lieber aktionistischer Projekte wie "A Letter to the Stars" als kontinuierlicher Initiativen - ein Grund, den Gedenktag bisher für eine "vergebene Chance" zu halten.  
Der unsichtbare 5. Mai
Von Heidemarie Uhl

Gedenktage beziehen ihre Relevanz nicht allein aus der Vergangenheit, an die sie erinnern, sondern aus ihrer Bedeutung für die Gegenwart. In ihrem Gedächtnis wird eine Gesellschaft sichtbar, hat der Gedächtnis-Theoretiker Jan Assmann betont, "welche Vergangenheit sie darin sichtbar werden lässt, sagt etwas aus über das, was sie ist und worauf sie hinauswill."

Insofern hat der 5. Mai in Österreich kaum sichtbare Präsenz gewonnen. Der Tag der Befeiung des KZ Mauthausen war mit Parlamentsbeschluss vom November 1997 zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus erklärt worden. Die Aktivitäten des offiziellen Österreich beschränken sich seitdem weitgehend auf eine Gedenkfeier im Parlament, deren mediale Resonanz sich zumeist in einer kurzen Pressenotiz erschöpft.
Niederlande: Kranzniederlegung unter großer Beteiligung
Offizielles Gedenken kann aber auch den Rahmen für eine breite öffentliche Beteiligung eröffnen. Dies zeigt ein Blick in die Niederlande am 4. und 5. Mai: Höhepunkt der landesweiten Veranstaltungen am 4. Mai, dem Opfergedenktag, ist eine Kranzniederlegung am Denkmal für die Opfer des Krieges in Amsterdam, an der nicht nur die Königin und führende VertreterInnen des politischen Lebens teilnehmen, sondern auch Tausende BürgerInnen.
Schweigeminute und Befreiungstag
Um 20 Uhr steht das öffentliche Leben still, die Schweigeminute wird selbst in Restaurants und im privaten Kreis wahrgenommen. Auf die Gedenkkundgebungen des 4. Mai folgt der Befreiungstag am 5. Mai, der landesweit mit einer Vielzahl von Veranstaltungen gefeiert wird - vom philharmonischen Konzert bis zum Stadtteilfest der Amsterdamer gay community.

Eine Bewusstseinbildung gegen Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus prägt die gegenwartsbezogene Intention der beiden Gedenktage, die sich vor allem auch an Kinder und Jugendliche richten.
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Podiumsdiskussion "Niemals vergessen"
Über die Möglichkeit des Erinnerns und Vergessens". Diskutiert werden sollen dabei "Geschichtsaufarbeitung", "Erinnern" oder "Vergessen".

Mit:
Friedrich Stadler, Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Uni Wien
Heidemarie Uhl, Akademie der Wissenschaften
Tina Leisch, film- und textarbeiterin

Ort: Aula, Uni Campus, aAKH
Zeit:5. Mai 2004, 19:00
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Österreich am unteren Ende der Skala
Der niederländische Opfergedenktag mag über den mainstreamder europäischen Erinnerungskultur hinausgehen, im internationalen Vergleich zählt Österreich aber eher zu den Ländern am unteren Ende der Skala.

Und dies trotz der geschichtspolitischen Neuorientierung seit der Waldheim-Debatte, in deren Folge die Opferthese weitgehend abgelöst wurde durch das Bekenntnis zur "Mitverantwortung für das Leid, das zwar nicht Österreich als Staat, wohl aber Bürger dieses Landes über andere Menschen und Völker gebracht haben" (Bundeskanzler Franz Vranitzky 1991). Der neue Umgang Österreichs mit der NS-Vergangenheit sollte nicht zuletzt durch den NS-Opfergedenktag bekundet werden.
Bislang eine vergebene Chance
Gedenktage sind Repräsentationen des offiziellen Geschichtsverständnisses. Die Funktion des 5. Mai liegt daher nicht zuletzt darin, das Geschichtsbild des offiziellen Österreich sichtbar zu machen und im kollektiven Bewusstsein zu verankern. Insofern ist der 5. Mai bislang eine vergebene Chance.
Kritik an "A Letter To The Stars"
Das Feld des öffentlichkeitswirksamen Erinnerns wurde dem Projekt "A Letter To The Stars" überlassen, das nun bereits zum zweiten Mal - diesmal bei der Befreiungsfeier am 9. Mai in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen - eine Gedenkveranstaltung mit SchülerInnen organisiert. Den Luftballons am Heldenplatz folgen nun die Friedenstauben in Mauthausen.

Während die Organisatoren vom "größten schulischen Forschungsprojekt zum Thema Zeitgeschichte in Österreich" sprechen, mehrt sich gerade unter LehrerInnen Unmut über diesen "Event". So kritisiert Martin Krist, der an der AHS Gymnasiumstraße in Wien Deutsch und Geschichte unterrichtet, das Fehlen eines pädagogischen Konzepts und einer Nachhaltigkeit für die Bewusstseinsbildung der SchülerInnen. Vielmehr könne man sich durch die Teilnahme an diesen Events einer intensiveren Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit entziehen und das Thema als erledigt abhaken.
Wissensplattform statt Aktionismus
Die offizielle Unterstützung für "A Letter To The Stars" wird insbesondere von jenen engagierten LehrerInnen als Affront empfunden, die dem Themenbereich NS-Vergangenheit in ihrer Unterrichtspraxis kontinuierlich einen großen Stellenwert einräumen, mit SchülerInnen fundierte Unterrichtsprojekte erarbeiten, Gedenkinitiativen setzen (etwa Gedenktafeln für die vertriebenen und ermordeten jüdischen SchülerInnen) und Gedenkstättenbesuche durchführen, aber auch gegenwartsrelevante Themen wie Intoleranz, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit aufgreifen.

Mittlerweile steht mit dem Projekt "Nationalsozialismus und Holocaust. Gedächtnis und Gegenwart" (www.erinnern.at) eine Wissensplattform zur Verfügung, die diese Unterrichtsprojekte unterstützt und österreichweit vernetzt.
Unterstützung der offiziellen Erinnerungskultur fehlt
Die Vielzahl an Projekten im Schulbereich zeigt, dass unter SchülerInnen und LehrerInnen ein beachtliches Engagement besteht, die Erinnerung an die Opfer des NS-Regimes wach zu halten. Es fehlt an nachhaltiger Unterstützung durch die offizielle Erinnerungskultur, um diese Initiativen bei Gedenkanlässen wie dem 5. Mai zu bestärken, zu bündeln und ihnen jenen Raum zu verschaffen, in dem sich öffentlich sichtbar werden können.
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Die Historikerin und Kulturwissenschafterin Heidemarie Uhl ist Mitarbeiterin an der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Sie forscht vorwiegend zu Themen des kollektiven Gedächtnisses und dem Umgang mit NS-Vergangenheit sowie zu Fragen kultureller Identitäten.
->   Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte
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->   Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance, and Research
->   www.erinnern.at
->   Holländische Gedenktage
->   A Letter to the Stars
->   Kritik an A Letter to the Stars (malmoe.at)
Mehr Beiträge von Heidemarie Uhl in science.ORF.at:
->   Politisches Handeln in der Mediengesellschaft (24.10.03)
->   Gedächtnis: Die Karriere eines Begriffs (14.10.03)
 
 
 
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01.01.2010