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Schwierige Geburt: Standards für die Wissenschaft  
  Wissenschaftliche Erkenntnisse können mitunter immense Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft haben. Umso wichtiger ist ihre Verlässlichkeit. Doch wie geht man um mit Forschungsdaten, die etwa weltweit, über einen langen Zeitraum und von unterschiedlichsten Instrumenten und Forschern gesammelt und ausgewertet werden? Die Antwort: Festlegung wissenschaftlicher Standards. Dass dies nicht ganz so einfach ist, wie es klingen mag, zeigt ein Essay im aktuellen "Science" - am Beispiel von Wetterdaten und Klimaforschung.  
Paul Edwards von der School of Information der University of Michigan liefert eine kleine Chronik der Meteorologie, um die schwierige und langwierige Arbeit an internationalen wissenschaftlichen Standards - mitsamt ihrer politischen und gesellschaftlichen Dimensionen - zu beleuchten.
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Der Text ist unter dem Titel "'A Vast Machine': Standartds as Social Technology" in "Science", Bd. 304, Ausgabe vom 7. Mai 2004 erschienen.
->   Der Artikel in "Science" (kostenpflichtig)
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Die "vast machine" als Zukunftsvision
Bereits 1839 formulierte der Wissenschaftler John Ruskin die Idee der "vast machine": die Vision einer meteorologischen Gesellschaft, die weltweit Klima und Wetter überwachen sollte - mithilfe perfekter Systeme für methodische und simultane Beobachtungen.
Das Global Observing System
Heute sei Ruskins "vast machine" weitgehend komplett, schreibt Paul Edwards in seinem "Science and Society"-Essay.

Das Global Observing System der World Meteorological Organisation (WMO) sammelt die Daten eines riesigen Netzwerkes aus Satelliten, Radar, Wetterballons und Co, hauptsächlich zum Zwecke der Wettervorhersage.
->   Global Observing System der WMO
Zudem Datenvergleich für die Klimaforschung
Doch die Daten haben einen weiteren, heute äußerst wichtigen Nutzen: Sie dienen auch dem Nachweis globaler klimatischer Veränderungen. Denn, wie Edwards ausführt, heute werden Jahrzehnte alte Daten mit jüngsten Beobachtungen verglichen, um Klimatrends zu erkennen.
Die weltweite Debatte rund um das Klima
Gerade rund um den von Klimaforschern festgestellten weltweiten Trend zu höheren Temperaturen hat sich allerdings in den vergangenen Jahren eine hitzige öffentliche Debatte um Ursachen, Folgen und Maßnahmen entspannt.
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Hochkonjunktur für Klima-Kollaps-Szenarien
Wie aktuell diese Themen sind, zeigt etwa auch der demnächst anlaufende Hollywood-Katastrophenfilm "The Day after Tomorrow", in dem einmal mehr ein Klima-Kollaps in Form einer neuen Eiszeit die Welt ins Chaos stürzt.
->   Wie realistisch ist "The Day after Tomorrow"? (6.5.04)
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Das "stachelige Problem" der Wetterdaten
Das Klima ist also ein Thema nicht nur für Wissenschaftler, sondern auch für Gesellschaft und Politik.

Doch wie kann man diesbezüglich verlässliche Daten sammeln? "Wie vergleichen wir Thermometer-Ablesungen in Chicago aus Jahr 2003 mit Ablesungen in Moskau von 1867", fragt Paul Edwards.

Ein "stacheliges Problem", wie der Wissenschaftler meint. Seit mittlerweile rund 150 Jahren werden die Wetterdaten gesammelt, doch die meteorologischen Netzwerke haben sich dabei permanent verändert - quantitativ, aber vor allem auch qualitativ.
Standards: Sozial konstruierte Werkzeuge
Die Antwort scheint einfach: Für die Aufrechterhaltung der Konsistenz sind Standards notwendig, die den Umgang mit den Forschungsdaten genau festlegen.

Doch: "Standards sind sozial konstruierte Werkzeuge", schreibt Edwards dazu. "Sie verkörpern die Ergebnisse von Verhandlungen, die gleichzeitig technischen, sozialen und politischen Charakter haben."
Institutionelle, finanzielle, praktische Dimensionen
Mit anderen Worten: Es handelt sich dabei nicht selten um eine eher "schwierige Geburt", haben doch die Ergebnisse solcher Verhandlungen weitreichende Folgen.

"Obwohl langwierig und undurchsichtig, befinden sich Verhandlungen über Standards unter den komplexesten und wichtigsten politischen Arenen moderner Gesellschaften, mit unzähligen institutionellen, finanziellen, symbolischen und praktischen Dimensionen", so der Wissenschaftler.
Am Beispiel der Klimaforschung
Edwards Beispiel: Die Klimaforschung und augenblicklich zu beobachtende weltweite Klimawandel. Dahinter lägen mehr als 150 Jahre an langsamen, schmerzhaften Verhandlungen über globale Standards für das Messen, die Aufzeichnung und Kommunikation über das Wetter.

Sein Essay umspannt im Folgenden grob 150 Jahre an Wissenschaftsgeschichte - von den Anfängen internationaler Meteorologie-Standards 1853 bis zum heutigen Szenario des Global Observing System.
->   Eine Grafik zur Veranschaulichung des GOS (WMO)
In der Praxis sind wenige Standards perfekt
Ein weiteres Problem: Ähnlich wie Algorithmen dienen Standards laut dem Wissenschaftler dazu, die exakte Art und Weise, wie etwas gemacht wird, festzulegen.

Doch in der Praxis seien wenige Standards tatsächlich perfekte Algorithmen, so Edwards. Ein Unsicherheitsfaktor ist demnach etwa der Mensch, dessen Disziplin bei der Einhaltung eine wesentliche Rolle spielt.
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Ein Beispiel aus den 1980er Jahren
Ein schönes Beispiel beschreibt Paul Edwards in seinem Essay: In den späten 1980er Jahren ersetzte demnach der U.S. Weather Service in Tausenden seiner Stationen die alten Thermometer mit digitalen Geräten. Deren Anzeige (in Fahrenheit) war allerdings weitaus genauer als zuvor - als Konsequenz sollten die Temperaturen auf den nächsten vollen Grad gerundet werden. Doch eine ganze Reihe der Meteorologen hielt sich nicht an die Vorgabe bzw. rundete offenbar falsch. Zudem war die Qualität der Wetterdaten nun sehr viel besser. In Rahmen des Netzwerkes kam es jedenfalls in Folge zu einer Verschiebung der täglichen Durchschnittstemperatur um immerhin -0.1 Grad Celsius sowie der täglichen Temperaturspanne um -0,7 Grad Celsius verglichen mit dem alten System.
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Die Dimensionen technologischer Systeme
Beispiele wie das oben beschrieben illustrieren nach Paul Edwards die kompelxe Kombination aus sozialen und technischen Problemen, die die Implementation von Standards beeinflussen.

Und gerade die Klimapolitik hat laut dem Wissenschaftler seit den 1980er Jahren zu Diskussionen über die Qualität von Daten geführt - manchmal seien dabei Debatten wieder belebt worden, die durch die Standards eigentlich beendet werden sollten.

Auf lange Sicht führe diese stärkere Prüfung zu besserer Wissenschaft, schreibt Edwards abschließend. "Auf kurze Sicht demonstriert sie die nicht reduzierbaren sozialen und politischen Dimensionen aller technologischer Systeme."

Sabine Aßmann, science.ORF.at
->   Homepage von Paul Edwards (University of Michigan)
->   School of Information der University of Michigan
->   World Meteorological Organisation (WMO)
->   Alles zum Stichwort Klima in science.ORF.at
 
 
 
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01.01.2010