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Lateralisierung: Warum die Gehirnhälften spezialisiert sind  
  Die Spezialisierung der Gehirnhälften für gewisse Funktionen ist unter den Wirbeltieren weit verbreitet. Stellt sich die Frage: Welchen Vorteil bietet diese so genannte Lateralisierung? Experimente eines internationalen Forscherteams haben nun Folgendes gezeigt: Hühner, deren Hirnhälften bei der Verarbeitung visueller Reize völlig gleichberechtigt reagieren, haben Schwierigkeiten, mehrere Aufgabenstellungen gleichzeitig zu bewältigen. Hühner mit Hang zur Einseitigkeit kommen mit einem solchen "Multitasking" hingegen gut zurande.  
Wie Lesley J. Rogers von der University of New England in Australien mit seinen Kollegen herausfand, kann die Herausbildung der Hemisphären-Spezialisierung bei Hühnern noch vor dem Schlüpfen durch einfache Eingriffe unterbunden werden.

Das solcherart manipulierte Federvieh schnitt allerdings deutlich schlechter ab, wenn es gleichzeitig Nahrung suchen und Feinde im Auge behalten musste.
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Die Studie "Advantage of having a lateralized brain" von Lesley J. Rogers, Paolo Zucca und Giorgio Vallortigara wird demnächst als Online-Publikation der Fachzeitschrift "Proceedings of the Royal Society: Biology Letters" erscheinen.
->   The Royal Society Publications
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Homo sapiens - Großmeister der Einseitigkeit
Das menschliche Gehirn weist bekanntlich einen besonders starken Hang zur Einseitigkeit auf: So dominiert beispielsweise bei rund 95 Prozent aller Rechtshänder die linke Hirnhälfte in Sachen Sprachverarbeitung. Bei Linkshändern sind es immerhin noch 70 Prozent.
Lateralisierung unter Wirbeltieren verbreitet
Die so genannte Lateralisation (von latein. "lateralis" = seitlich) ist aber keine Erfindung des Homo sapiens, vielmehr tritt sie - in abgeschwächtem Maße - bei sehr vielen Wirbeltieren auf.

Ganz allgemein gilt die Regel, dass die rechte Hirnhälfte bei Tieren eher für die Verarbeitung von neuartigen Reizen sowie für den Ablauf von schnellen Reaktionen verantwortlich ist. Die linke Hemisphäre ist hingegen mit der Kategorisierung von eingehenden Informationen betraut.
->   Primate Handedness and Brain Lateralization (Indiana University)
Wozu eigentlich?
Aus Sicht der biologischen Forschung ist der hohe Verbreitungsgrad dieser Tendenz ein erklärungsbedürftiges Faktum. Warum, so muss man fragen, spielt die erste Geige im Konzert der Neuronen derart häufig nur auf einer Seite?
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Literaturtipp
Einen interessanten - wenn auch nicht mehr ganz taufrischen - Überblick zu diesem Thema gibt der Review-Artikel "Lateralization of functions in the vertebrate brain" von S. F. Walker aus dem "British Journal of Psychology" (Band 71, S. 329-367).
->   Zum Artikel (Birbeck University of London)
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Antwort durch das Experiment
Lesley J. Rogers und Mitarbeiter haben nun den Versuch unternommen, diese Frage durch das Experiment zu beantworten. Dabei machten sie sich eine bemerkenswerte Entdeckung zunutze, die ihnen bereits in den 1990er-Jahren gelang.

Damals konnten sie zeigen, dass ungeschlüpfte Hühnerembryonen nur dann eine Lateralisierung bei der Verarbeitung visueller Reize entwickeln, wenn die Eier in den letzten drei Tagen vor dem Schlüpfen kurz belichtet werden.
Dunkelheit unterbindet Hemisphären-Spezialisierung
Unterbleibt dieser Lichtreiz in der Embryonalentwicklung, dann agieren die beiden Hirnhälften bei der Verarbeitung der Sehinformation fortan völlig gleichberechtigt. Dieser Unterschied hat offensichtlich auch Auswirkungen auf die kognitiven Fähigkeiten der erwachsenen Hühner.
Lateralisierung unterstützt "Multitasking"
Konkret hatten Hühner ohne lateralisierte Gehirne Schwierigkeiten, wenn sie verschiedene Probleme gleichzeitig bewältigen mussten.

Wurden die Hühnervögel vor die Aufgabe gestellt, Getreidekörner vor einem Hintergrund von Kieselsteinen vom Boden zu picken - und gleichzeitig einen per Video angezeigten Fressfeind im Auge zu behalten - dann reagierten sie darauf mit Verwirrung.

Das Federvieh mit "normalen" - sprich spezialisierten - Gehirnhälften konnten hingegen unter diesen Bedingungen seine Trefferquote von Getreidekörnern stetig verbessern. Das heißt, diese Vögel waren auch unter Doppelbelastung zu einem Lerneffekt imstande.
Ergebnis erklärt hohen Verbeitungsgrad
Die Autoren sind der Meinung, dass die Versuchsbedingungen auch Anforderungen in der Freien Wildbahn widerspiegeln.

Demzufolge sei die Fähigkeit zur simultanen Abarbeitung unterschiedlicher Prozesse im Gehirn von großer Wichtigkeit für das Überleben von Tieren. Und das sei wiederum ein möglicher Grund für den hohen Verbreitungsgrad der Lateralisierung.
->   Centre for Neuroscience and Animal Behaviour (Univ. of New England)
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at
->   Warum Mütter ihre Kinder links tragen (28.1.04)
->   Gehirn: Schon Babys haben einseitige Sprachverarbeitung (9.9.03)
->   Warum Hirn- und Körperhälften "vertauscht" sind (26.5.03)
->   Küsse verraten die Vorliebe für die rechte Seite (13.2.03)
 
 
 
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01.01.2010