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Muslime in Europa: Debatte um Islam und Integration  
  Gerade eben ist die Europäische Union um zehn Mitgliedsländer reicher geworden, doch schon konzentriert sich vielerorts die Debatte auf einen weiteren Anwärter: Die Türkei steht im Blickpunkt - und mit ihr die Frage, ob sich der Islam bzw. Muslime überhaupt in ein unter gemeinsamen Werten vereintes Europa einfügen könnten. Eine unübersehbare "antimuslimische Stimmungsmache" konstatiert etwa der Soziologe Tariq Modood - und erinnert an historische Zusammenhänge, die den Einfluss des Islam als einen äußerst wichtigen Bestandteil europäischer Geistesgeschichte zeigen.  
Tariq Modood, Direktor des Centre for Ethnicity and Citizenship der britischen University of Bristol stellt eine seit den Ereignissen des 11. Septembers in der Luft liegende politische Rhetorik fest, die sich auf Samuel Huntingtons "Kampf der Kulturen" berufe.

In Europa sei eine antimuslimische Stimmungsmache zur Zeit unübersehbar, schreibt der Soziologe in einem aktuellen Artikel.
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Der Text "Die Muslime und der Multikulturalismus in Europa" von Tariq Modood erscheint im Juni in der Zeitschrift "Transit - Europäische Revue" (Nr. 27), herausgegeben vom Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM).
->   Transit - Europäische Revue (Vorschau auf Nr. 27)
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Muslime stehen "am Pranger"
"Entgegen vielfach geäußerten offiziellen Beteuerungen des Gegenteils sind im Westen nicht wenige Kommentatoren der Ansicht, das grundlegende Problem sei weder der Terrorismus noch der islamische Fundamentalismus, sondern der Islam als solcher", so der Soziologe.

Ein Grund dafür: Der Islam werde von vielen Terroristen und Dschihad-Organisationen ganz unzweideutig als Motivationsquelle genannt. Huntingtons These berge so tatsächlich die Gefahr, zu einer "self-fulfilling prophecy" zu werden.
Die vergessenen historischen Zusammenhänge
Doch mit dieser Darstellung will sich der Soziologe nicht zufrieden geben - und plädiert beispielsweise dafür, lange vergessene historische Zusammenhänge wieder ans Licht zu heben:

"Die Vorstellung indessen, der Islam sei etwas grundsätzlich Anderes als der jüdisch-christliche Westen, ist ebenso irrig wie verbreitet", schreibt Modood. "Durch den Glauben an die Offenbarungen Abrahams, Moses, Jesu und Mohammeds gehört der Islam vielmehr in die gleiche Traditionslinie wie Christentum und jüdische Religion."

Insbesondere dem Judentum stehe er durch den Monotheismus, das Rechtssystem und die Formen des Gemeinschaftslebens nahe - "von den besonderen Regelungen des Alltagslebens wie etwa den Ernährungsvorschriften gar nicht erst zu reden".
Beispiel Spanien: Das "Goldene Zeitalter"
Modood erinnert etwa an die Zeit der muslimischen Herrschaft in Spanien - ein "Goldenes Zeitalter" in der Erinnerung der Juden, wie er sagt. "Damals war der Islam eine Kultur und für den Westen eine echte geopolitische Konkurrenz."

Doch auch zu dieser Zeit seien Islam und Christentum einander weder fremd noch bloße Rivalen gewesen: "Sie lernten voneinander und befruchteten sich in vielfältiger Weise."
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Wechselbeziehungen in Bildung, Forschung, Medizin ¿
"Wechselbeziehungen ergaben sich im Bildungssystem, in Philosophie und naturwissenschaftlicher Forschung, in Medizin, Architektur und den technischen Wissenschaften. Es waren die Araber, die das klassische, den Christen längst verloren gegangene Wissen der Griechen und Römer bewahrt hatten, das nun mit den Muslimen - zusammen mit der Institution der Universität nach Westeuropa kam", heißt es dazu.
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Grundlagen von Rationalismus und Humanismus
Für Modood zeigen diese Zusammenhänge, dass "kritischer Rationalismus und Humanismus, die aus der Auseinandersetzung mit den Texten der alten Griechen entstanden und den Boden bereiteten für Renaissance, Reformation und moderne Wissenschaft, ihre Geburtsstätte in arabischen Universitäten hatten, auch wenn sie erst in Westeuropa zur Blüte gelangten."
Für einen "Dialog der Kulturen"
Dass Europa die eigene Kultur als "Wiedergeburt Griechenlands und Roms" begriff und den arabischen Anteil "regelrecht ausmerzte", sieht Modood als Beleg für eine "rassistische Mythenbildung, die auch heute noch fortwirkt".

"Es wäre ein Schritt in Richtung auf einen Dialog der Kulturen und auf eine weniger einseitige Auffassung sowohl von Europa wie vom Islam, wenn es uns gelänge, diese historischen Zusammenhänge ans Licht zu heben", regt der Soziologe an.
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Muslime in Europa: Vielzahl nationaler Zusammenhänge
Modood beschreibt im Folgenden ausführlich die aktuelle Diskussion um Multikulturalismus/Interkulturalismus, Integration sowie verschiedene "Gleichheits-Konzepte" (Stichwort Assimilation versus "Differenz" im privaten/öffentlichen Raum), er verweist auf die Vielzahl nationaler Zusammenhänge (das Beispiel Großbritannien nimmt breiten Raum ein) und spricht so umstrittene Themen wie die Gleichberechtigung der Religionen an.

Seine These: Die Anliegen der Muslime seien letztlich dem Anspruch auf Gleichstellung der Geschlechter oder auf ethnische Gleichbehandlung gleichzusezten. "Betrachtet man das Thema in diesem Kontext, dann dürfte sich erweisen, wie sehr europäisch und zeitgenössisch die Grundsätze des Mainstreams der Muslime im Hinblick auf ihre Identitätspolitik sind."
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Muslime als ein Teil der europäischen Zukunft
Das Schlussplädoyer des Soziologen schließlich sieht für die Problematik folgenden Ausweg: Statt eines "intoleranten, fremdenfeindlichen Nationalismus" sollte Europa den umgekehrten Weg beschreiten.

"Man sollte die Muslime als legitimen Teil der Gesellschaft ansehen und sie in jenes institutionelle Regelwerk von Kirche und Staat, Religion und Politik einbeziehen, das den entwickelten, gemäßigten Laizismus des Gros der westeuropäischen Staaten kennzeichnet", so Modood.

Man müsse Europa und seine sich wandelnden Nationen neu denken, "damit die Muslime nicht länger die fremde Gruppe der 'Sie' bleiben, sondern Teil eines pluralen 'Wir' werden, die sich nicht zeitweilig in Europa aufhalten, sondern Teil seiner Zukunft werden."

Sabine Aßmann, science.ORF.at
->   Centre for Ethnicity and Citizenship der University of Bristol
->   Homepage von Tariq Modood (University of Bristol)
->   Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM)
Die aktuelle Debatte in ORF.at:
->   Krenn warnt vor EU-Beitritt der Türkei
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   Studie ortet neuen Pluralismus in islamischen Ländern (29.3.04)
->   Islamische Gesellschaftsvisionen der Neuzeit (12.8.03)
 
 
 
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01.01.2010