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Neuronales Durcheinander: Wenn der Puppenschuh an den Kinderfuß soll  
  Bereits Kleinkinder verfügen über erstaunliche geistige Fähigkeiten, wie Forschungen in den vergangenen Jahren zeigen konnten. Doch ab und an scheint in ihrem Gehirn einiges durcheinander zu geraten. Wie Wissenschaftler nun berichten, kommt es beispielsweise vor, dass der Nachwuchs - der die Größe von Objekten eigentlich längst richtig erkennt - dennoch versucht, den eigenen Fuß in einen winzigen Puppenschuh zu zwängen oder auf einem Miniaturstuhl Platz zu nehmen.  
Der ursprüngliche Impuls, diese "Aussetzer" der Kinder zu untersuchen, sei aus der Beobachtung des eigenen Nachwuchses erwachsen, berichten die Forscher um Judy DeLoache vom Department of Psychology der University of Virginia in Charlottesville in "Science".

Ursache des Durcheinanders könnte demnach sein, dass dabei eine Verbindung zwischen zwei unterschiedlichen neuronalen Systemen kurzzeitig "zusammen bricht".
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Die Studie ist unter dem Titel "Scale Errors Offer Evidence for a Perception-Action Dissociation Early in Life" in "Science", Bd. 304, Seiten 1027-1029, Ausgabe vom 14. Mai 2004 erschienen.
->   Zum Original-Artikel (kostenpflichtig)
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Die komplexe Wahrnehmung von Babys
Schon bei Babys beobachten Forscher äußerst komplexe Wahrnehmungsfähigkeiten. Wenige Stunden alte Neugeborene erkennen demnach beispielsweise das Gesicht ihrer Mutter - und blicken es lieber an als das einer fremden Person.
Zum Teil bessere Wahrnehmung als Erwachsene
In manchen Bereichen verfügen die Kleinen gar über eine bessere Wahrnehmung als erwachsene Menschen:

Im Alter von wenigen Monaten sind sie etwa noch in der Lage, feinste Lautunterschiede zu erkennen, selbst wenn diese in ihrer Muttersprache gar keine Rolle spielen. Später geht diese Fähigkeit allerdings verloren.
"Aussetzer" beim Spielen mit Mini-Objekten
Bild: Science
Dieses 21 Monate alte Kind hat versucht, die Miniaturrutsche hinunter zu rutschen.
Doch es kommt auch vor, dass beim Nachwuchs einiges durcheinander gerät, wie das US-Forscherteam nun berichtet: Die Wissenschaftler haben eine spezielle Form von "Aussetzern" bei 18 bis 30 Monate alten Kleinkindern untersucht.

Der Nachwuchs ist zu diesem Zeitpunkt zwar bereits fähig, die Größe eines Objektes richtig einzuschätzen. Doch im Hinblick auf die passende Aktion mit dem Gegenstand scheint dieses Wissen hin und wieder keine Folgen zu haben.
Wenn der Po nicht auf den Puppenstuhl passt
So versuchten die Kinder beispielsweise, sich auf einen winzigen Puppenstuhl zu setzen oder eine kleine Spielzeugrutsche hinunter zu rutschen. Auch der Versuch, in ein viel zu kleines Auto einzusteigen, konnte beobachtet werden.
->   Video mit Miniatur-Rutsche (RealOne Player)
->   Video mit Puppenauto (RealOne Player)
->   Video mit winzigem Puppenstuhl (RealOne Player)
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Details zu den Versuchen des Teams
Die Forscher ließen ihre 18 bis 30 Monate alten Versuchsteilnehmer zunächst einige Zeit mit einer Rutsche, einem Auto sowie einem Stuhl in kindgerechter Größe spielen. Dabei wurde darauf geachtet, dass die Kinder zumindest zwei Mal mit jedem der drei Gegenstände spielten. Im Versuchsraum befand sich allerdings auch weiteres Spielzeug wie Kinderbücher oder Puppen.

Anschließend wurden die Kinder aus dem Raum geführt. Als man sie zurückbrachte, befanden sich dort statt der großen Gegenstände Miniaturausgaben der betreffenden Objekte. Spielten die Kinder nicht spontan mit diesen, lenkten die Beobachter ihre Aufmerksamkeit darauf, ohne allerdings die Größe zu kommentieren.

Die Videoaufnahmen der verschiednen Interaktionen mit den Gegenständen wurden anschließend sehr genau ausgewertet, um das "normale" Spielen eindeutig vom fehlgeleiteten Versuch zu unterscheiden.
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Warum diese "Maßstab-Irrtümer"?
Bild: Science
Der Bub im Alter von 24 Monaten hat die Tür des Spielzeugautos geöffnet und versucht nun, seinen Fuß hinein zu bringen.
"Die Verbindung zwischen visueller Erfahrung und Handlung ist ein klassisches und fundamentales Problem in Psychologie und Neurowissenschaft", schreiben die Wissenschaftler in ihrer Studie.

Ihre Erklärung für die "Maßstab-Irrtümer", wie sie die fehlgeleiteten Versuche der Kleinkinder nennen:

Zum einen sehen die Forscher ihre Beobachtungen als Beleg dafür, dass bei den Kindern eine bestimmte Form der Kontrolle über die eigenen Handlungen bzw. Bewegungen (die so genannte "inhibitory control") noch nicht ausgereift ist.
Kategorie verbunden mit bestimmter Motorik
Demnach aktivieren die Miniaturgegenstände beim Kind die Repräsentation der allgemeinen Kategorie "Stuhl" oder "Rutsche". Dabei sei auch das normale motorische Programm inbegriffen, das jeweils mit den Objekten zusammen hängt - also etwa das Herunterrutschen.

Normalerweise führe nun die Wahrnehmung der Größe dazu, dass die aktivierten motorischen Abläufe unterdrückt würden, heißt es in "Science".

Doch gelegentlich scheine die verfügbare Größeninformation nicht dazu zu dienen, den aktivierten Handlungsablauf zu unterdrücken. Die Folge: Das Kind fasse einen Handlungsplan, der auf der allgemeinen Kategorie basiere.
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Die Größe spielt dann allerdings eine Rolle
Interessantes Detail: Ist es soweit gekommen, dass das Kind etwa versucht, in dem Spielzeugauto Platz zu nehmen, wird die Größe des Objektes bei der Feinabstimmung der Bewegungen doch wieder mit einbezogen. Wie die Forscher berichten, waren die tatsächlichen Bewegungen der Kinder der Größe des Miniaturgegenstandes angepasst.
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These: Unausgereifter präfrontaler Kortex
Verantwortlich sein könnte eine noch unzureichend ausgereifte Gehirnregion - der Präfrontale Kortex, vermuten die Forscher. Dieser befinde sich gerade in den ersten Lebensjahren in einer umfangreichen Entwicklungsphase.
Zwei unterschiedliche visuelle Systeme?
Bild: Science
Ein 28 Monate alter Bub schaut zwischen seine Beine, um den Puppenstuhl genau zu lokalisieren, auf den er sich gerade setzten möchte.
Diese Schwierigkeiten bei der Kontrolle von Handlungen könne die Beobachtungen allerdings nicht vollständig erklären, meinen die Wissenschaftler - und verweisen auf die Dissoziation zwischen der Verwendung der visuellen Information bei Planung einerseits und Kontrolle (in diesem Fall die "Feinmotorik" im Umgang mit den kleinen Gegenständen) andererseits.

Tatsächlich gibt es bereits entsprechende Theorien zur Verarbeitung visueller Informationen, auf die die Forscher in ihrer Studie verweisen: Demnach könnte es sich um zwei neuronal und funktional getrennte visuelle Systeme handeln.

Ein Bereich der Informationsverarbeitung beträfe die Identifizierung von Objekten sowie das Planen einer entsprechenden Handlung. Der zweite Bereich hingegen bezöge sich auf die genaue Kontrolle der Bewegungen - etwa im Hinblick auf die Größe des Gegenstandes.
Gelegentlicher Zusammenbruch der Verbindung
Mit anderen Worten: Die Irrtümer der kleinen Versuchspersonen wären auch darauf zurück zu führen, dass die Verbindung von Informationen aus jenen beiden Bereichen gelegentlich zusammen bricht.

Interessant seien die Beobachtungen auch, weil ähnliche Formen von "Dissoziationen" bei zahlreichen neurologischen Schädigungen bei Erwachsenen vorkämen, kommentiert einer der Forscher die Ergebnisse in einer Aussendung.
->   Department of Psychology der University of Virginia
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01.01.2010