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Bilder zeigen, wie das Gehirn erwachsen wird  
  Das menschliche Gehirn ist bekanntlich ein recht komplexes Organ. Wenig überraschend ist auch die Entwicklung der neuronalen Schaltzentrale nicht ganz einfach. Forscher haben nun über zehn Jahre hinweg die Gehirne von Kindern in unterschiedlichen Altersstufen mit bildgebenden Methoden untersucht. Ein Ergebnis der Langzeit-Studie, die den neuronalen Reifungsprozess auch in Form eines kurzen Films präsentiert: Gehirnspezifisch besonders "hochwertige" Areale reifen vergleichsweise spät aus.  
Die Forscher um Nitin Gogtay von den amerikanischen National Institutes of Health (NIH) sowie vom Laboratory of Neuro Imaging der University of California in Los Angeles haben ihre insgesamt 13 Probanden über einen Zeitraum von zehn Jahren untersucht, wie sie in den "Proceedings of the National Academy of Sciences" berichten.
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Der Artikel erscheint unter dem Titel "Dynamic mapping of human cortical development during childhood through early adulthood" zwischen dem 18. und 21. Mai 2004 als Advanced Online Publication in den "PNAS" (doi:10.1073/pnas.0402680101).
->   "PNAS Early Edition"
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Kernspintomografie zeigt graue Substanz
Die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen deckten - im Laufe des Untersuchungszeitraums - eine Alterspanne von vier bis 21 Jahren ab. Alle zwei Jahre wurden von ihren Gehirnen mittels Kernspintomografie (MRI) Aufnahmen gewonnen.

Dabei ging es den Wissenschaftlern vor allem um die Verteilung bzw. Dichte der so genannten grauen Substanz: Neuronen und ihre astartigen Verzweigungen, welche die Rindenstruktur des Cortex bilden.
Film zeigt Entwicklung im Zeitraffer
Visualisiert wurden "Ebbe und Flut" der grauen Substanz, wie es in einer Aussendung der National Institutes of Health heißt. Das Ergebnis ist nun auch in Form eines kurzen Films zu sehen, der im Zeitraffer von wenigen Sekunden rund 15 Jahre Gehirnentwicklung zeigt.
->   Der Film (RealOne Player)
Immer weniger graue Hirnsubstanz
 
Bild: PNAS

Oben stehende Bilder wurden aus dem "Film" genommen: Rote Bereiche zeigen mehr graue Gehirnsubstanz an, während blaue Areale für weniger davon stehen. Dargestellt ist grob die Entwicklung zwischen dem fünften und zwanzigsten Lebensjahr.

Was auf den ersten Blick vielleicht wenig spektakulär aussehen mag, zeigt doch eine höchst komplexe Entwicklung:

Die graue Substanz nimmt demnach bei der normalen Reifung des Gehirns in einer sich anatomisch von vorne nach hinten ausbreitenden Welle ab, während bestehende neuronale Verbindungen abgebaut werden.
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Ganz normal: Überproduktion und Abbau der grauen Masse
Tatsächlich ist dieser Abbau von grauer Hirnmasse seit langem bekannt. Man glaubte allerdings bis vor wenigen Jahre noch, dass jene Substanz während der ersten 18 Lebensmonate überproduziert würde, um sich danach beständig zu verringern, während unbenutzte "Schaltkreise" gleichsam lahmgelegt würden. Ganz so einfach ist es allerdings nicht, wie in den späten 1990er Jahren US-Forscher feststellten: Sie entdeckten eine zweite Welle der Überproduktion, die genau vor der Pubertät liegt - gefolgt von einer weiteren Abbauphase in der Jugendzeit. In der Filmsequenz der aktuellen Studie ist diese Zunahme vor der Pubertät allerdings nicht zu sehen, wie die Forscher hinweisen.
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Elementare Bereiche reifen zuerst
Die aktuelle Studie hat die verschiedenen Phasen der Gehirnreifung untersucht. Demnach sind jene Areale, die für die elementarsten Funktionen wie Bewegung oder Verarbeitung der Sinneseindrücke zuständig sind, am frühesten ausgereift.
Komplexe Funktionen kommen erst zum Schluss
Bereiche, die mit der räumlichen Orientierung und Sprache zusammen hängen, folgen ihnen nach.

Am längsten schließlich dauert die Reifung von komplexen Gehirnarealen, die für besonders fortgeschrittene Funktionen wie die Integration verschiedener Sinnesinformationen, logisches Denken und anderes verantwortlich sind.
Abfolge gleicht Evolution des Säugerhirns
Die zeitliche Folge der Ausreifung folgt nach Meinung der Forscher im Übrigen grob der Evolution des Säugetierhirns.

Demnach entwickelte sich etwa der so genannte präfrontale Kortex, der so komplexe Aufgaben wie das logische Denken abwickelt, evolutionär betrachtet eher spät. Er gehört laut der aktuellen Studie auch zu den spät ausreifenden Arealen.
Für ein besseres Verständnis von Krankheiten
Die Ergebnisse der Studie sollen vor allem dabei helfen, bestimmte neurologische Erkrankungen besser zu verstehen:

"Um Gehirnveränderungen zu untersuchen, die wir bei Erkrankungen wie Schizophrenie feststellten, benötigten wir ein besseres Bild davon, wie das Gehirn sich normalerweise entwickelt", beschreibt Judith Rapoport, eine der beteiligten Forscherinnen, die Hintergründe.
Beispiel Schizophrenie: Übertriebener Reifeprozess?
In einer früheren Studie hatten Forscher um Rapoport beispielsweise Prozesse der Gehirnentwicklung bei Jugendlichen mit Schizophrenie untersucht.

Damals stellten sie fest, dass bei einem Krankheitsbeginn noch vor der Pubertät der Verlust an grauer Masse in den so genannten Frontallappen überdurchschnittlich hoch war.

Sie deuteten das Ergebnis als Hinweis darauf, dass ein Einsetzen der Schizophrenie in der Kindheit "eine Übertreibung des normalen Reifeprozesses sein könnte".
Autismus hingegen als Entwicklungs-"Fehlschritt"
Autistische Kinder hingegen zeigen laut den Wissenschaftlern einen abnormale Zunahme statt der zu erwartenden Abnahme an grauer Substanz. Das wiederum könne auf einen "spezifischen Fehlschritt" in der frühen Entwicklung hindeuten.
->   Child Psychiatry Branch der NIH
->   Laboratory of Neuro Imaging der UCLA
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01.01.2010