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"Nature or nurture": Tragisches Ende eines Experiments  
  "Nature or nurture" - die Frage, ob Veranlagung oder Umwelt den Menschen prägt, wurde schon anhand vieler Beispiele heftig diskutiert. Besonders tragisch endete vor wenigen Tagen ein "Experiment am lebenden Objekt": Der als biologischer Bub geborene David Reimer wurde nach einem Unfall als Mädchen erzogen, rebellierte dagegen und litt ein Leben lang unter den Spätfolgen. Nun hat er Selbstmord begangen.  
Verlust des Geschlechts mit acht Monaten
Es galt als eines der symbolkräftigsten Experimente der Sexualwissenschaft: John Money, Endokrinologe und Sexualforscher von der Johns Hopkins University in Baltimore, stand dabei ebenso im Mittelpunkt wie das Schicksal eineiiger Zwillinge - Brian und David Reimer.

Als David - oder "Bruce", wie ihn seine Eltern ursprünglich nannten - 1966 im Alter von acht Monaten wegen eines Routineeingriffs in ein Spital in Winnipeg gebracht wurde, begann das Unglück. Die Beseitigung einer Vorhautverengung ging schief, das eingesetzte Elektrogerät war defekt und verbrannte den Penis des Buben - das Geschlechtsteil fiel ab.
Ratsuche beim Sexualwissenschaftler
In ihrer Verzweiflung wandten sich die Eltern von Bruce an John Money, den sie zufällig im TV gesehen hatten. Money vertrat die strikte These, dass die Entwicklung der geschlechtlichen Identität von Kindern ausschließlich aus deren Erziehung und Sozialisation resultiere und nicht genetisch festgelegt sei.
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Sexualforscher John Money
John Money hat 1955 anhand klinischer Fälle gezeigt, dass Kinder, bei denen die anatomische Zuordnung zum männlichen oder weiblichen Geschlecht nicht eindeutig erfolgen konnte, nur wenig Probleme hatten, sich an das für sie ausgesuchte Geschlecht anzupassen. Obwohl seine späteren Zwillingsstudien zu weit gingen, bleibt mit seinem Namen ein Meilenstein in der Geschichte der Sexualwissenschaft verbunden: Money führte erstmals die Unterscheidung zwischen "sex" und "gender" ein - im Deutschen am ehesten mit "biologischem vs. sozialem Geschlecht" zu übersetzen.
->   Mehr über John Money (Kinsey Institute)
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Bruce wird zu Brenda
Der Sexualforscher ermunterte die Eltern, die übrig gebliebenen Reste der männlichen Genitalien ihres Kindes entfernen zu lassen und ihn mit weiblichen Hormonen zu versorgen. Bruce war 22 Monate alt, als ihm die Hoden entfernt wurden, fortan wurde er/sie als "Brenda" erzogen. Außerdem verpflichtete Money die Eltern, Brendas ursprüngliche Anatomie geheim zu halten.

Der für den Sexualwissenschaftler Money besonders interessante Umstand: Durch den genetisch identen Zwillingsbruder Brian gab es eine perfekte Vergleichsmöglichkeit mit der Entwicklung von Brenda.
Brenda wurde in Pubertät zunehmend "männlicher"
Anfangs zeigten sich auch tatsächlich Unterschiede zwischen Brenda und Brian, die aber immer stärker verschwanden, je eher sie die Pubertät erreichten. Brenda entwickelte zunehmend stärkere Nacken- und Schultermuskulatur, ihr Verhalten wurde zunehmend "männlicher".

"Ich habe wirklich versucht, sie als sanfte Frau zu erziehen", sagte ihre Mutter Janet Reimer im kanadischen Fernsehen 1997, "aber das ist nicht gelungen".
Aufklärung mit 14 Jahren
Nach einer Reihe weiterer Behandlungen, die Brenda als zunehmend belastend empfand, verriet ihr der Vater schließlich ihre wahre Geschichte. Die damals 14-jährige reagierte wütend, entwickelte Hassgefühle gegenüber John Money und jenem Arzt, der einst die misslungene Operation der Vorhaut ausführte. Es folgten insgesamt drei Selbstmordversuche.
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Literaturtipp
Über die Geschichte von David Reimer ist im Jahr 2000 das Buch "As Nature Made Him: The boy who was raised as a girl" (HarperCollins Publishers) von John Colapinto erschienen. Er hat sie auch in zahlreichen TV-Shows nacherzählt.
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Rückgewinnung von Normalität
Bild: HarperCollins Publishers
Brenda nahm schließlich wieder eine männliche Identität an und nannte sich David. Per Operation wurden die Brüste entfernt und ein künstlicher Penis aus Muskel- und Knorpelgewebe geschaffen.

Tatsächlich gelang es David nach und nach ein Stück Normalität zu erreichen - inklusive eines "normalen" Sexuallebens. Jahre später heiratete er sogar, konnte zwar keine eigenen Kinder zeugen, kümmerte sich aber um die drei Stiefkinder seiner neuen Ehefrau.
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Wie bildet sich die geschlechtliche Identität?
Je nach Wissenschaftsdisziplin oder Weltanschauung werden auf die Frage nach dem Ursprung der Geschlechter-Identität verschiedene Antworten gegeben. Eine medizinische Studie vom Jänner 2004 sah die fundamentale Rolle der Gene gestärkt, Kulturwissenschaftlerinnen wie Judith Butler sehen das anders. Sie lehnen jede Art von Essenzialismus ab.
->   Mehr dazu in: Was macht den Mann zum Mann? (27.1.04)
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Weitere Schicksalsschläge
Reimer erhielt nach einem Prozess gegen das Spital in Winnipeg 73.000 US-Dollar an Schmerzensgeld, wirklich ins Reine kam er aber weder finanziell noch privat.

Denn weitere Schicksalsschläge folgten: Sein Bruder Brian beging vor zwei Jahren Selbstmord, der Vater war Alkoholiker, die Mutter depressiv. Schließlich verlor er nach einer Fehlinvestition auch noch all seine Ersparnisse und auch seine Frau Jane trennte sich von ihm. Am 4. Mai 2004 nahm sich David Reimer, 38-jährig, in seiner Heimatstadt Winnipeg das Leben.

Der heute 83-jährige Sexualforscher John Money verweigerte bisher jeden Kommentar.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 18.5.04
->   Being Brenda ("The Guardian")
->   David Reimer (Wikipedia)
->   "produktive differenzen": Forum für Differenz- und Genderforschung
->   Magnus Hirschfeld-Archiv für Sexualwissenschaft
 
 
 
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01.01.2010