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Kultureller Wechsel - Produkt des Zufalls?  
  Die klassische, im Anschluss an Charles Darwin entwickelte Evolutionstheorie lehrt, dass sich Gene mit gutem Grund in einer Population ausbreiten. Nämlich dann, wenn sie die Fitness von Individuen überdurchschnittlich fördern. Eine in den 1970er Jahren entwickelte Erweiterung dieses Ansatzes besagt, dass das nur zum Teil zutrifft: Viele Erbfaktoren breiten sich demnach durch rein zufällige Effekte im Gen-Pool einer Tier- oder Pflanzengruppe aus. Ein internationales Team von Forschern zeigt nun, dass dieses als "Zufallsdrift" bekannte Muster auch für kulturelle Merkmale gilt.  
Wie R. Alexander Bentley und Mitarbeiter vom University College London berichten, weisen ganz unterschiedliche Errungenschaften der menschlichen Kultur ein äußerst ähnliches Verteilungsmuster auf. Dabei handelt es sich um das Auftreten von Vornamen, die Zitathäufigkeit von Patenten sowie die Tradierung von Motiven jungsteinzeitlicher Töpferei.

Diese Verteilung, so die These der Wissenschaftler, sei am besten durch ein Modell zu erklären, das ursprünglich in der Evolutionsbiologie entwickelt wurde.
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Der Artikel "Random drift and culture change" von R. Alexander Bentley , Matthew W. Hahn und Stephen J. Shennan erscheint als Online-Veröffentlichung ("First Cite") der Fachzeitschrift "Proceedings of the Royal Society of London. Series B" (DOI 10.1098/rspb.2004.2746).
->   The Royal Society Publications
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Neo-Darwinismus: Evolution durch Selektion
Der so genannte Neo-Darwinismus, die Vereinheitlichung von Darwins Ideen mit der modernen Genetik, deutet die Verbreitung von Genen im Laufe der Zeit als einen selektionsabhängigen Prozess.

Das heißt, es sollten sich immer jene Gene gegenüber ihren konkurrierenden Varianten durchsetzen, die die Fortpflanzung von Lebewesen in bestimmten Umwelten besonders fördern.
->   Selektion bei Wikipedia
Neutralitätstheorie: Evolution durch Zufall
In den 1970er-Jahren entwickelte der japanische Populationsgenetiker Motoo Kimura eine Theorie, der zufolge die Vermehrung von vielen Genen als reine Glückssache angesehen wird.

Kimuras "Neutrale Theorie der molekularen Evolution" besagt - kurz gefasst - folgendes: Gen-Varianten weisen oft gleiche oder nur sehr minimal unterschiedliche Fitnesswerte auf und verbreiten sich daher in Populationen mehr oder wenig zufällig.

Das heißt, die Wirkung der Selektion wird mit diesem Modell zwar keineswegs geleugnet, deren richtende Kraft erfasst aber nur einen Teil der vorhandenen Erbfaktoren. Der Rest verdankt seine Existenz vor allem zufälligen Schwankungen in der Zusammensetzung des Gen-Pools.
->   Wikipedia: Neutral theory of molecular evolution
Potenzgesetze treten in vielen Fachgebieten auf
Wie Bentley und seine Kollegen zu Beginn ihrer aktuellen Publikation betonen, lässt sich die Verteilung von unterschiedlichen biologischen Einheiten (Moleküle, Gene, Arten etc.) sehr häufig durch ein so genanntes Potenzgesetz beschreiben.

Das bedeutet, dass beispielsweise einige wenige Moleküle in der lebenden Zelle in Sachen Stoffwechsel eine sehr zentrale Position einnehmen, während sehr viele andere ein echtes Mauerblümchendasein fristen.

Ähnliche Potenzgesetze kennt man auch von einer Reihe nicht-biologischer Systemen. So ist etwa das Zipfsche Gesetz in der Linguistik ein solches, die Reihung von Websites nach deren Linkpopularität kann ebenfalls mit der selben Grundformel beschrieben werden.
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Potenz-Tipp
Einen aktuellen Überblick zu Potenzgesetzen in der Biologie geben die beiden Netzwerkforscher E. Almaas und A.-L. Barabasi in ihrem Aufsatz "Power laws in biological networks", der am Preprintserver arXiv.org kostenfrei erhältlich ist.
->   Zum Original-Artikel
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Untersucht: Namen, Malereien, Patente
R. Alexander Bentley und Mitarbeiter untersuchten nun drei völlig unterschiedliche Kulturleistungen unter eben diesem quantifizierenden Blickwinkel.

Zum einen betrachteten sie die Häufigkeiten aller Vornamen, die im Rahmen einer US-amerikanischen Volkszählung aus dem Jahr 1990 gewonnen wurden.

Zum zweiten behandelten sie in ihrer Studie die zeitliche Entwicklung dekorativer Motive auf Töpfen jungsteinzeitlicher Siedlungen nahe des Merzbachs in Deutschland. Drittens analysierten sie zwei Datenbanken von US-Patenten in Bezug auf deren Zitathäufigkeit.
Weitreichender Analogieschluss
Was haben nun Namen, Dekorationen und Patente gemeinsam? Und vor allem, was haben sie mit der Evolutionstheorie zu schaffen?

Wie der Name von Bentleys Arbeitsstätte - das Centre for the Evolutionary Analysis of Cultural Behavior - schon ahnen lässt, bedienen sich die Forscher in ihrer Studie eines bio-kulturellen Analogieschlusses.
"Vererbung" und "Mutation" in der Kultur
Sie betonen, dass auch Kulturleistungen - in Form der Tradition - einer Quasi-Vererbung unterworfen sind. Überdies gebe es auch ein Gegenstück zur Mutation, denn Namen könnten in der nächsten Generation nicht nur unverändert auftreten, sondern auch durch Varianten ausgetauscht werden.

Das selbe gelte - mutatis mutandis - auch für Zitate und künstlerische Motive. Ähnliche Argumente wurden bereits in früherer Zeit von den Vertretern der so genannten Mem-Theorie entwickelt, der zufolge Ideen, Moden, Theorien u.ä. kulturelle Gegenstücke zu den Genen aus der Biologie darstellen, die man kurz als "Meme" bezeichnet.
->   Principia Cybernetica Web: Memetics
Neutralitätstheorie erklärt Verteilungsmuster
Wie Bentley und seine Kollegen herausfanden, lassen sich die Verteilungen der Elemente aller drei Kulturbereiche durch die erwähnten Potenzgesetze beschreiben:

Es gibt jeweils einige omnipräsente Varianten, und viele, die äußerst selten auftreten. Dies ist zunächst noch nicht besonders sensationell, die Kulturbiologen betonen aber, dass dies einer gesonderten Erklärung bedürfe.

Anhand einer Computersimulation konnten die drei Forscher nämlich zeigen, dass sich solche Verteilungsmuster genau dann ergeben, wenn man Kimuras Neutralitätstheorie auf den Bereich kultureller "Vererbung" anwendet.
Der Zufall redet mit
Mit anderen Worten: Die Studie legt nahe, dass der Zufall nicht nur in der Welt der Gene, sondern auch bei der Weitergabe gesellschaftlicher, künstlerischer und technologischer Errungenschaften ein Wörtchen mitzureden hat.

Kultur stellt sich aus diesem Blickwinkel als Entscheidungsprozess dar, der häufig - aber keineswegs immer -zwischen wertneutralen Alternativen auswählt.
->   Centre for the Evolutionary Analysis of Cultural Behavior
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at
->   Feuergebrauch bereits vor 790.000 Jahren (29.4.04)
->   Verhalten als Kulturprodukt: "Flower Power" bei Pavianen (14.4.04)
->   Sprechen über Kultur in biologischen Begriffen (23.3.04)
->   Urbane Mythen: Je ekliger, desto besser (18.3.03)
 
 
 
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01.01.2010