News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Medizin und Gesundheit 
 
Experte: Warum Tierversuche notwendig sind  
  Tierversuche in der Medizin sind gesellschaftlich umstritten. Zur Entwicklung neuer Therapien bislang unheilbarer Krankheiten sind sie aber notwendig, meint Hans Lassmann, Vorstand des Institutes für Hirnforschung der Medizinischen Universität Wien, in einem Gastkommentar. Er beschreibt ihre Funktion anhand der Forschung zu Multipler Sklerose.  
Tiere haben keine MS - sind aber ein geeignetes Forschungsmodell
Von Hans Lassmann unter Mitarbeit von Susanne Krejsa

Rund 50 Jahre Multiple-Sklerose-Forschung haben zwar bisher nicht zur ersehnten Heilung von MS aber wenigstens zu seiner "Zähmung" geführt: Der aggressive Krankheitsverlauf von einst, der die Erkrankten geradewegs in den Rollstuhl zwang, kommt heute glücklicherweise nur noch selten vor.
Gewebekulturen alleine reichen nicht
In der Forschung wird so viel wie möglich mit zeitsparenden und kostengünstigen Computersimulationen und Gewebekulturen gearbeitet. Gewebekulturen erlauben den Schritt von der Theorie in die biologische Realität als "Proof of Principle". Was ihnen allerdings fehlt, ist das komplexe Zusammenspiel des Körpers.

Es ist richtig, dass MS des Menschen bisher an Tieren nicht spontan aufgetreten ist. Entweder tritt sie tatsächlich nicht auf, weil es keine Übereinstimmung zwischen der Chemie ihres Gehirnes und der möglicher auslösender Viren gibt, oder sie wurde mangels regelmäßiger Tierobduktionen bloß noch nie gefunden. Dennoch dienen Tiere als wichtige Modelle für die Entwicklung neuer Möglichkeiten in Diagnose und Therapie von MS.
Gene ein- und ausschalten ...
Wegen ihres sehr menschenähnlichen Immunsystems werden zu 99 Prozent Mäuse mit über 1.000 verschiedenen Stämmen und transgenen Linien eingesetzt. Sie werden standardisiert gehalten, sind biologisch genau definiert und einander durch die Zucht so ähnlich, dass schon relativ wenige Tiere pro Versuchsanordnung genügen.

Darüber hinaus sind sie leicht zu halten und vermehren sich schnell, sodass die notwendigen Beobachtungen über mehrere Generationen in relativ kurzer Zeit durchgeführt werden können. Für bestimmte Fragestellungen muss auf Zuchtratten zurückgegriffen werden.
... bei transgenen bzw. Knock-out Tieren
Der Forschungsansatz "Wie kontrolliert das Immunsystem das Nervensystem, und was kann dabei schiefgehen?" soll die fehlgesteuerte Immunabwehr bremsen bzw. davor schützen. An der immunologischen Kontrolle sind Faktoren aus mehreren Genen beteiligt - mindestens sechs oder sieben, möglicherweise sogar bis zu 19. Durch Genvergleiche von erkrankten und gesunden Mitgliedern derselben Familie können im ersten Schritt idente Genregionen ausgeklammert werden.

Sobald bei nicht-identen Genregionen geklärt ist, ob die Unterschiede krankheitsrelevant sind, werden die Einzelgene der jeweiligen Region isoliert und alle "nur zufällig" anwesenden ausgesondert. Um zu erkennen, ob "verdächtige" Gene tatsächlich an der MS-Pathogenese beteiligt sind, müssen sie wie ein Lichtschalter an- und ausschaltbar sein. Das ist bei transgenen bzw. Knock-out Tieren möglich.
Beispiel "Ciliary Neurotrophic Factor"
Ein bereits geklärtes Beispiel macht deutlich, aus wie vielen Einzelfragen sich die scheinbar so simple Aufklärung eines einzelnen Gens zusammensetzt: Bei ca. drei Prozent der Bevölkerung fehlt ein Gen, das den "Ciliary Neurotrophic Factor" (abgekürzt: CNTF) regelt.

Solange eine Person gesund ist, stört das Fehlen von CNTF nicht. Erkrankt diese Person aber an MS, so entwickelt sich die Krankheit früher und stärker als bei CNTF-Trägern, da CNTF die Stabilität und Selbstregeneration der Gliazellen im Gehirn unterstützt. Um zu prüfen, ob CNF therapeutisch anwendbar ist, werden in Studien an Tieren die Auswirkungen geklärt, wenn der Organismus mit großen CNTF-Dosen überflutet wird.
...
Kontrolle der Ionenkanäle, Stammzellen-Therapien
Ein erfolgversprechender Ansatzpunkt aktueller Studien am Tier ist die Kontrolle der Ionenkanäle: Wie und mit welchen Substanzen können diese Ionenkanäle sachte aber effektiv zum gewünschten Verhalten veranlasst werden?

Auch Stammzellen-Therapien werden in Studien am Tier untersucht: Nachdem in Gewebekulturen geprüft wurde, ob und unter welchen Bedingungen sich Knochenmarks-Stammzellen zu Gehirnzellen umwandeln können, muss im biologischen Modell der Tiere gezeigt werden, ob diese neuen Gehirnzellen auch die Fähigkeit zur Reparatur haben. Weiters lässt sich nur in dieser Konstellation ausschließen, dass die ins Gehirn eingepflanzten Stammzellen entarten.
...
Bis zu 3.000 Grundlagenforscher weltweit
Federführend in der MS-Forschung sind die USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Holland und Schweden. Österreich kooperiert eng mit Deutschland. Rund 2.000 bis 3.000 Grundlagenforscher weltweit arbeiten mit Computersimulationen, Gewebekulturen und Studien am Tier an allgemeinen und MS-spezifischen Einzelfragen.

Dazu kommen noch die klinischen Forscher, die den direkten Patientenkontakt haben, sowie Wissenschaftler der allgemeinen Neurowissenschaften.
...
o. Univ.-Prof. Dr. Hans Lassmann ist seit 1999 Vorstand des Institutes für Hirnforschung der Medizinischen Universität Wien und beschäftigt sich vorwiegend mit der Pathologie und Pathogenese der Multiplen Sklerose. Dr. Susanne Krejsa ist Wissenschaftsjournalistin in Wien.
->   Institut für Hirnforschung, Med-Uni Wien
...
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Steigende Tendenz bei Tierversuchen in Österreich (26.6.03)
->   EU: Neue Labor-Tests sollen Kaninchen retten (12.5.03)
->   Tierversuche: Forschung nach Alternativen gefordert (23.4.03)
->   EU: Tierversuche für Kosmetika ab 2009 verboten (15.1.03)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Medizin und Gesundheit 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010