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Europa als Fallbeispiel für den Postkolonialismus  
  Die Theorien des Postkolonialismus sind aus der Beschäftigung mit dem historischen britischen Kolonialreich entstanden. Ihre Möglichkeiten, sie auch auf das "neue", im Umbruch befindliche Europa anzuwenden, lotet Michael Rössner, Philologe der Universität München, in einem Gastbeitrag aus.  
Europa neu - Europa postkolonial
Von Michael Rössner

Grundlegende Perspektiven der an den US-amerikanischen Universitäten (Harvard, Yale, Chicago) entwickelten Post-colonial Studies haben in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend die neuere Kulturtheoriedebatte geprägt.

Die drei meistzitierten Theoretiker der Post-colonial Studies, Edward Said, Homi Bhabha und Gayatri Spivak, weisen verblüffende Übereinstimmungen in ihren Biographien auf: Sie stammen alle aus ehemaligen britischen Kolonien in einem "Orient" im weiteren Sinne, haben an britischen oder britisch geprägten Eliteuniversitäten studiert und haben nun Lehrstühle an US-amerikanischen Eliteuniversitäten inne, von denen aus ihre Theorien - wenn man deren Inhalt auf sie selbst anwendet - in einer privilegierten Weise Kanäle besetzen, die aus dem Zentrum an die Peripherie (zu der in diesem Fall auch wir Europäer gehören) führen.
Post-colonial studies - nicht nur für (Ex-)Kolonialreiche
Ursprünglich sind die Post-colonial studies zwar ausschließlich für ein bestimmtes (Ex-)Kolonialreich, nämlich das britische, entwickelt worden, und das merkt man dem "orthodoxen" Teil ihrer Vertreter auch an.

Da sie andererseits - vor allem in Homi Bhabhas Variante - eine geradezu idealtypische Umsetzung der Denkanstöße der französischen und US-amerikanischen poststrukturalistischen Theorie (Deleuze-Guattari, Derrida, Paul de Man) darstellen, hat sich freilich gezeigt, dass viele ihrer Begriffe und Perspektiven (wie der "dritte Raum", das in-between, die allgegenwärtige Hybridität im im Gegensatz zu einer ideologisch behaupteten "Reinheit der Kulturen") auch in anderen Erdteilen mit einer ganz anderen historischen Entwicklung (etwa Lateinamerika) - mutatis mutandis anwendbar sind.

Wenn man Homi Bhabhas These ernst nimmt, dass allein schon die Kommunikation zwischen Zentrum und Peripherie zu einer wechselseitigen "Hybridisierung" führt, dann ist es eigentlich nur logisch, auch die ehemalige Metropole Europa in eine "postkoloniale" Betrachtung einzubeziehen.
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Themenabend am 24. Mai
"Europa neu - Europa postcolonial?" ist der Titel eines Themenabends in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Ist Europa ein Fallbeispiel für den Postkolonialismus? Ausgehend von aktuellen postkolonialen Theorien steht die Frage zur Diskussion, ob die postkoloniale Perspektive für die Vergangenheit und vor allem für die Gegenwart EU-Europas von Relevanz ist.
Begrüßung: Moritz Csaky, Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der ÖAW
Podiumsdiskussion: Michael Rössner (Wien-München), Eva Kovacs (Budapest-Wien), Oto Luthar (Ljubljana), Roger Heacock (Birzeit University, Palestine), Anil Bhatti (New Delhi)
Moderation: Martin Bernhofer (ORF/Ö1)
Zeit: Montag, 24. Mai 2004, 17.00 c.t.
Ort: Clubraum der ÖAW, Ignaz Seipel-Platz 2, 1010 Wien
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"Hybride" Kulturen
Damit ist der erste und wohl naheliegendste Anwendungsbereich skizziert. Europa postkolonial - das bedeutet ein Europa, in dem z.B. England zu einem der wesentlichsten Orte der Produktion hybrider und "diasporischer" Karibikkultur, Frankreich zu einem der wichtigsten Zentren der mahgrebinischen Kultur geworden ist, um nur zwei besonders naheliegende Felder der Hybridisierung zu nennen.

Trotz aller Tendenzen zur Abschottung der "Festung Europa" ist eine solche Entwicklung für das gesamte Europa der 25 vorauszusehen und muss in die fieberhaft gesuchte Definition des "Europäischen" einbezogen werden, soll diese nicht ausschließlich rückwärtsgewandt konzipiert werden.
Das neue Europa in "postkolonialer" Perspektive
Darüber hinaus tun sich aber noch weitere Möglichkeiten auf, das Europa in "postkolonialer" Perspektive zu betrachten. Da ist zunächst die Situation des seit dem 1. Mai um zahlreiche Länder, die fast 50 Jahre einen weitgehend kolonialen Status hatten, erweiterten "neuen" Europa.

Diese Länder (die baltischen Staaten, Tschechien und die Slowakei, Polen, Ungarn und Slowenien) kommen nicht nur aus einer weitgehend "kolonialen" Vergangenheit, sie sind auch - wie gerade die jüngste Geschichte zeigt - nach wie vor in einer Situation, in der eine wirtschaftliche "Kolonialisierung" als Billiglohnländer an der europäischen Peripherie mit einer forcierten Globalisierung unter amerikanischer Hegemonie einhergeht, wobei sie andererseits noch mit manchen Lasten des zerbrochenen sowjetischen Imperiums belastet sind (vor allem die baltischen Staaten).
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Buchtipp
Johannes Feichtinger, Ursula Prutsch, Moritz Csaky (Hg.): Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis, Innsbruck u.a. 2003 (= Gedächtnis - Erinnerung - Identität 2).
->   Das Buch im Studienverlag
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Neue Peripherien
Vor allem aber sind durch die Erweiterung Europas einige weitere Staaten (etwa die Ukraine, oder die Balkanstaaten) zur neuen "Peripherie" des größeren Europa geworden.

Aber selbst innerhalb der "alten EU" hat die Spannung zwischen einem möglichen "Kerneuropa" und dem - wohl zwangsläufig peripheren - Rest Dimensionen angenommen, welche die Anwendung mancher postkolonialen Begriffe auf die Binnenrelationen des neuen Europa sinnvoll erscheinen lassen.
Das "alte" Europa im Kontext der Globalisierung
Und schließlich gibt es die Frage nach dem Status des "alten" Kontinents Europa an sich im Kontext der Globalisierung, die hierorts zunächst eher mit wohlwollender oder sarkastischer Ironie betrachtet worden ist. Zweifelsohne hat aber Europa in vielen Bereichen (Kulturindustrie, Wissenschaftsbetrieb) längst den Status einer Semikolonie erreicht.

Unter diesem Gesichtspunkt ist die Frage nach der Identität und der Stellung Europas längst schon mit dem Ballast einer - nicht mehr post-, sondern prä-kolonialen oder überhaupt schon kolonialen - Situation belastet. Wie kann die "Peripherie" Europa sich im Verhältnis zum "Zentrum" USA positionieren, das unter anderem auch die postkoloniale Theorie hervorgebracht hat und erfolgreich exportiert?
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Über den Autor
Michael Rössner ist Professor für Romanische Philologie an der Universität München.
->   Mehr über Michael Rössner (Universität München)
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->   Publikationsreihe "Gedächtnis - Erinnerung - Identität" (ÖAW)
 
 
 
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01.01.2010