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"Imagined Community": Bilder für eine europäische Identität  
  Die Europäische Union wächst - und befindet sich derzeit vor allem auch auf der Suche nach der vielbeschworenen europäischen Identität, abseits von politischen und ökonomischen Faktoren. Das österreichische Forschungsprojekt "Iconclash" untersucht potenziell identitätsstiftende Gemeinsamkeiten in den medial verbreiteten Bildern und Vorstellungen über das "Projekt Europa". In einem Gastbeitrag spürt die Historikerin und "Iconclash"-Projektleiterin Heidemarie Uhl jenen "visuellen Narrativen" der "imagined community" EU-Europa nach.  
EU-Europa als "Imagined Community" - Oder: Europa visualisieren?
Von Heidemarie Uhl

Die EU-Integration ist nicht allein ein politisch-ökonomischer, sondern vor allem auch ein mentaler Prozess. Offenkundig genügt es nicht, die Europäische Union als rational-politisch organisierten Staatenverband zu konzipieren, offenkundig bedarf das Projekt Europa einer emotionalen Fundierung, eines kollektiven Gefühls von Gemeinsamkeit und Zusammengehörigkeit.

"Einen Binnenmarkt kann man nicht lieben" - dieser Ausspruch von Jacques Delors wurde zum vielzitierten Verweis auf dieses "Identitätsbegehren".
Mangel an europäischem "Wir"-Gefühl
Der vielfach konstatierte Mangel an einem europäischen "Wir"-Gefühl hat Identitätspolitik auf die agenda der EU gesetzt:

Über die politischen Symbole - Fahne, Hymne - hinaus wird nach Gemeinsamkeiten gesucht, die "uns Europäer" nun verbinden sollen - sei es ein gemeinsames "kulturelles Erbe" über die Jahrhunderte hinweg, wie es etwa die Ikonographie der Euro-Banknoten vermitteln soll, oder die Suche nach europäischen "Gedächtnisorten", die als Fundament des "Hauses Europa" fungieren sollen.
"Wir" und die "Anderen"
Die Problematik dieser Konzepte liegt weniger in ihrem geringen Erfolg - die Daten des EU-Barometer lassen wenig Zweifel daran, dass es ein europäisches Bewusstsein derzeit nur in Ansätzen gibt -, sondern im Rückgriff auf das Repertoire nationalstaatlicher Identitätspolitik und den damit verbundenen Mechanismen von Inklusion und Exklusion:

Wer von gemeinsamen Merkmalen, auf denen die Identität eines Kollektivs beruht, spricht, zieht immer auch die Grenze zwischen der Wir-Gruppe und den "Anderen", den nichtzugehörigen "Fremden".

"Das sind wir" oder "das ist unser Gegenteil", so formuliert Jan Assmann dieses binäre Prinzip, das in die Rede über das, was den Charakter eines Kollektivs ausmachen soll, eingeschrieben ist. Dies wird auch im erwähnten Bildprogramm des Euro visualisiert: Die architektonischen Symbole zeigen eine durch das Christentum geprägte Kultur als Basis des gegenwärtigen Europa.
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Podiumsdiskussion zum Thema
Unter dem Titel "Communicating Europe. Die Europäische Union - Imagined Community und demokratische Handlungsfelder" finden in Wien eine Podiumsdiskussion sowie ein Workshop zum Thema statt, bei der das Projekt "Iconclash" präsentiert und diskutiert werden soll. Zu den Teilnehmern zählt auch Heidemarie Uhl.

Podiumsdiskussion am Donnerstag, 27. Mai, 18.00, und Workshop am Freitag, 28. Mai (9.00-17.30), veranstaltet von der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und dem Demokratiezentrum Wien.

Ein Bericht über die Veranstaltung ist in der Sendung "Dimensionen" am 2.6. um 19.05 im Programm Österreich 1 zu hören.
->   Radio Österreich 1
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Verbindung durch Vorstellung
Folgt man der neueren Nationsforschung, so sind es allerdings gerade nicht objektiv feststellbare Gemeinsamkeiten, die ein Kollektiv, eine Nation verbinden, sondern die Vorstellung von Gemeinsamkeiten.

Die Konstruktion dieser Vorstellungen wird durch Diskurse bzw. Narrative generiert; Identität - das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Wir-Gruppe - ist demnach das Ergebnis der permanenten (Re-)Produktion dieser Narrative in der öffentlichen Kommunikation.
Kollektive als "Imagined Communities"
Betrachtet man Kollektive demnach als "imagined communities" (Benedict Anderson), so ist EU-Europa kein weißer Fleck auf der mental map kollektiver Vorstellungen: Im öffentlich-medialen Kommunikationsraum zirkulieren permanent Narrative über die EU, durch die identitätsstiftende Images über das Projekt Europa generiert werden.

Dies erfolgt allerdings nicht allein oder nicht einmal vorrangig durch jene Texte, die gemeinhin als repräsentativ für die Europäische Union angesehen werden (da sie von den repräsentativen politischen Organen produziert werden) - Verträge, Gesetzestexte, Verordnungen, offizielle Erklärungen etc. -,vielmehr sind es die in der medialen Kommunikation präsenten Darstellungen, von denen die Vorstellungen/Imaginationen über EU-Europa geprägt werden.
Bilder prägen Identitäten
Eine besondere Bedeutung kommt dabei den visuellen Narrativen zu: Der visual turn in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften hat darauf aufmerksam gemacht, dass es nicht allein Diskurse sind, durch die Identitäten geprägt werden, sondern vor allem auch Bilder - die durch Bilder vermittelten Vorstellungen/Deutungen der "sozialen Wirklichkeit" werden handlungsleitend und beeinflussen so die politische Praxis.
"Familienfotos" der Führungseliten
Dies zeigt sich etwa an der Visualisierung des Feldes EU-Politik: Verweise auf eine über die Teilnahme an den Wahlen zum EU-Parlament hinausgehende Partizipation der BürgerInnengesellschaft finden sich kaum, die Akteursebene politischen Handelns ist weitgehend auf die politische Führungselite beschränkt; deren harmonisches Zusammenwirken wird durch das immer wiederkehrende Format der "Familienfotos" bei den EU-Gipfeltreffen unterstrichen.

Die europäischen BürgerInnen kommen hingegen zumeist nur als Kollektiv ins Bild, das entweder seinem Unmut über die Politik der EU in Form von Demonstrationen und anderen Protestformen (wie etwa Autobahnblockaden) oder aber seiner EU-Euphorie Ausdruck gibt - die Jubelfeiern in den Beitrittsländern zählen zu den visuellen Ikonen eines europäischen Bildgedächtnisses.
Analyse der europäischen Identitätsbildung
Die Frage nach den Vorstellungen über EU-Europa, die durch die visuellen Narrative generiert und kommuniziert werden - über die AkteurInnen und die agenda (demokratie-)politischen Handelns, über das Territorium und seine Grenzen, über politische, soziale, kulturelle und Gender-Ordnungen und Hierarchien, über die Darstellungen des "Anderen" - eröffnet einen kritischen Zugang zur Frage der "europäischen Identität".

Es kann aus einer wissenschaftlichen Perspektive nicht darum gehen - wie in manchen EU-Ausschreibungen angedeutet -, zur Stärkung einer europäischen Identität beizutragen, sondern vielmehr darum, den Prozess der europäischen Identitätsbildung zu analysieren und auf die darin eingeschriebenen "verborgenen Mechanismen der Macht" (Pierre Bourdieu) aufmerksam zu machen.

Bilder geben darüber oft mehr Aufschluss als die politische Rhetorik und die Pathosformeln der Diskurse über die EU.
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Informationen zur Autorin Heidemarie Uhl
Die Historikerin und Kulturwissenschafterin Heidemarie Uhl ist Mitarbeiterin an der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Sie forscht vorwiegend zu Themen des kollektiven Gedächtnisses und dem Umgang mit NS-Vergangenheit sowie zu Fragen kultureller Identitäten.
->   Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte
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->   Demokratiezentrum Wien
Projekt "Iconclash": Visuelle Narrative und Europa
Das Projekt "Iconclash. Kollektive Bilder und Democratic Governance in Europa" (Forschungsprogramm >node< New Orientations for Democracy in Europe des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur), geht davon aus, dass den visuellen Narrativen über Europa eine besondere Bedeutung zukommt.

Auf der Ebene des Visuellen bzw. der Kodifizierung von visuellen Symbolen europäischer Identität setzen zum einen die klassischen Formen politischer Selbstdarstellung bzw. von Identitätspolitik an: Fahne, Geldscheine und Münzen, Imagekampagnen etc. Im Projekt "Iconclash" soll die Aufmerksamkeit vor allem auf jene scheinbar neutralen, "authentischen" fotografischen Abbildungen der sozialen Wirklichkeit gerichtet werden, die in den (all-)täglichen medialen surroundings permanent präsent sind bzw. reproduziert werden und die - so die Ausgangsthese von "Iconclash" - Vorstellungen über EU-Europa weitaus stärker prägen als offizielle Darstellungen und Kampagnen zur Stärkung einer europäischen Identität.

Das Projekt "Iconclash" wird vomDemokratiezentrumWien in Kooperation mit der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften durchgeführt.
->   Weitere Informationen zu "Iconclash" (www.node-research.at)
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   Europa und Amerika: Die Chance in der Krise (26.4.04)
->   Habermas, Derrida & Co fordern Erneuerung Europas (30.5.03)
->   Trotz Europa: Österreicher bleiben "Österreicher" (15.12.03)
->   Der schwierige Weg zu einer Europa-Identität (7.3.03)
 
 
 
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01.01.2010