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Unwichtiger Fußball: Der Sonderweg der USA  
  Eine historische These geht davon aus, dass sich die USA im Vergleich zu anderen Industrienationen signifikant anders entwickelt haben. Eine der Auswirkungen: Fußball ist keine Nationalsportart. Den historischen Wurzeln dieser Ausnahmestellung ist der amerikanische Politikwissenschaftler Andrei Markovits am Donnerstag in Wien nachgegangen - und auch der Frage, wie sie das Verhältnis der Geschlechter beeinflusst hat.  
"American exceptionalism"
Markovits, Politikwissenschaftler und Soziologe an der University of Michigan, vertritt die Theorie des "American exceptionalism", der zu Folge sich die USA in einer Reihe wesentlicher Punkte von anderen Industrienationen unterscheiden.

Mit diesem Sonderweg der Vereinigten Staaten hat sich etwa der deutsche Soziologe und Nationalökonom Werner Sombart bereits im Jahr 1906 auseinandergesetzt, damals unter der Frage "Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus?"
Dreieinhalb Nationalsportarten in den USA
Auf sportliche Verhältnisse übertragen lautet die Frage "Warum gibt es keinen Fußball in den Vereinigten Staaten?" Oder anders: Warum kam es zur Herausbildung ganz anderer Nationalsportarten als in den anderen Industriestaaten?

Dreieinhalb dieser hegemonialen Sportarten ortet Markovits heute: Baseball, American Football, Basketball und Eishockey - letzteres, weil nicht flächendeckend erfolgreich, zählt er nur als "halbe". (Was dem Politologen schon einmal einen bösen Brief des entsprechenden Verbandes eingetragen hat.)
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Teil einer Ringvorlesung der Uni Wien
Andrei Markovits hielt am 27. Mai 2004 im Rahmen der "Ringvorlesung für Internationale Entwicklung: Global Players. Ökonomie, Politik und Kultur des Fußballs" einen Vortrag an der Universität Wien.
->   Programm der Ringvorlesung
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Offener Sportraum während der Industrialisierung
Zur Beantwortung der Frage nach dem sportlichen Sonderweg greift Markovits auf einen Begriff von Lipset/Rokkan aus den 1960er Jahren zurück - den "sports space". Dieser "Sportraum" sei im Europa der Industrialisierung offen gewesen: Alle bis heute hegemonialen Sportarten stammen aus dieser Zeit von 1860 bis 1920.

Diese Sportarten waren und sind durch eine Reihe von Eigenschaften charakterisiert: etwa durch die schriftliche Fixierung verbindlicher Regeln oder das "record keeping", das Festhalten der Resultate, das Messbarkeit und historische Vergleichbarkeit zulässt.

Und ganz wesentlich: Der Sport habe sich parallel zur Emanzipationsbewegung der Arbeiterklasse entwickelt, die aber - und hier knüpft Sombarts Frage an jene von Markovits an - in der Neuen und der Alten Welt unterschiedlich verlief. Und in den USA etwa niemals zur Bildung einer Massenpartei von Facharbeitern mit sozialistischer Ausrichtung führte.
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Das Scheitern des Soccer
Die Ursachen für das Scheitern von "Soccer" in den USA kurz zusammen gefasst: Als er Fuß fassen hätte können im Sportraum der USA, hatten Baseball, Football und Basketball bereits den Sportraum besetzt. Zudem gab es in der entscheidenden Phase keinen einigenden Nationalverband und - speziell in den 1920er Jahren, als Soccer populärer war als American Football, wurden von Funktionären Fehler begangen, die den Zusehern das Spiel längerfristig verleideten. Genau beschrieben hat Markovits dies in seinem 2002 auf Deutsch erschienenen, gemeinsam mit Steven Hellerman verfassten Buch "Im Abseits. Fußball in der amerikanischen Sportkultur".
->   Mehr über das Buch (Hamburger Edition)
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Durch und durch männlich
Ein weiteres Hauptcharakteristikum der modernen Sportarten: ihre umfassende Geschlechterdifferenzierung. Speziell Fußball sei eine durch und durch männliche Angelegenheit. Kein Wunder, dass sein Vorläufer, der "Shrovetide Football", im Prinzip eine Rauferei zwischen zwei männlichen Dorf"teams" gewesen sei, gerne auch ohne Ball.

Erst die Zweite Frauenbewegung vor 20 bis 25 Jahren habe an dieser männlichen Hegemonie im Sport rütteln können.
->   Mehr über Shrovetide Football (BBC)
Geschlechterdifferenzierende Sprache des Sports
Weniger der Sport als Betätigung interessiert Markovits, als vielmehr der "Sport als Sprache", als kulturelle Leistung. Warum etwa nach dem Champions League-Sieg des FC Porto am Mittwoch von einer portugiesischen Zeitung von einer "Erlösung" gesprochen werden konnte.

Oder warum der "guy talk" über Sport auf der einen Seite extrem klassendurchlässig wirkt - die Erfahrung, mit (fast) jedem Mann egal welcher sozialer Herkunft über das Fußballspiel vom letzten Samstag sprechen zu können, kennt (fast) jeder - und auf der anderen Seite nach wie vor Frauen ausschließt.
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Gender Bias auch unter Studierenden
Markovits illustrierte diesen Gender Bias mit einer Anekdote: Deutsche bzw. österreichische Studierende fragte er nach den exakten Aufstellungen bestimmter Teams (die 54er-Weltmeistermannschaft Deutschlands bzw. Österreichs Team beim 3:2 gegen Deutschland in Cordoba 1978), beide Male mit ähnlichen Resultaten. Während der Großteil der Studentinnen eher ungläubig schaute, begannen die Studenten bereits akribisch die Namen aufzuschreiben. Ein vergleichbarer Test in den USA ergab zudem: Während Studentinnen ein Nicht-Wissen in derlei Dingen relativ egal war, gaben männliche Studenten an, sich dafür regelrecht zu schämen.
->   Mehr über das 3:2, Aufstellungen inklusive (ORF.at)
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Karrierevorteil "guy talk" über Sport
Die besserwissende Gesprächskultur der Sportfans - im Amerikanischen mit dem schönen Begriff des "monday morning quarterback" umschrieben - verfügt nach Markovits über eine wesentliche Funktion in der Geschäftswelt. Über etwas sprechen zu können, das "alle" (Männer) interessiert, sei von unschätzbarem sozialen Vorteil.

Dabei handle es sich um einen Mechanismus, von dem Frauen bisher größtenteils ausgeschlossen sind - was nicht selten zu einem messbaren Karrierehindernis werden kann. Um das Handicap auszugleichen, hätten sich Dienstleister in den USA bereits - erfolgreich - darauf spezialisiert, Geschäftsfrauen den "football talk" beizubringen.
"Soccer Moms": Die Zeiten ändern sich ...
Bis heute seien alle hegemonialen Sportarten - gleichgültig, ob auf der europäischen Allee oder am amerikanischen Sonderweg - männlich dominiert, auch wenn sich mittlerweile einiges geändert habe. Das Phänomen der "soccer mums" - also Mütter mit meist besserem sozioökonomischem Hintergrund und akademischer Bildung, die ihre Töchter nicht nur zum Klavierunterricht, sondern auch zum Fußballtraining begleiten - ist ein relativ rezentes Phänomen der USA.
... aber die Kultur ist klebrig
Ein Knackpunkt für eine tatsächlich grundlegende Änderung des Geschlechterverhältnisses im Sport läge genau wieder im Sprechen über Sport. Erst wenn es eine Frauensportart geschafft haben wird, Teil dieses "guys talk" zu werden, ohne darin sexualisiert zu werden, könne man wirklich von etwas Neuem sprechen.

Ob sich dies aber bald einstellen werde, da ist Markovits skeptisch. Kultur sei "sticky" und konstant, das Sprechen über Sport ebenso. Noch "klebe" man in der Sportsprache von 1860 bis 1920, obwohl Frauen immer präsenter im Sport geworden sind und auch zahlreiche neue Sportarten auf den Markt drängen. Das Kognitive sei vielleicht global, der Affekt, die Emotion - also das Wesentliche beim Sport - aber lokal und "unglaublich retardiert".

Lukas Wieselberg, science.ORF.at
->   AndyMarkovits.com
->   Andrei S. Markovits (University of Michigan)
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01.01.2010