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Sex als Mittel gegen Stress  
  Wenn der Lebensraum ungemütlich wird, steigt die Lust auf Sex. Diese Regel gilt allerdings nicht für den Menschen, sondern für Algen. Nach Ansicht von amerikanischen Biologen hat das auch seinen Sinn. Sex sei, so ihre Argumentation, ein probates Mittel um das Erbgut vor Schäden zu bewahren, die sich unter unwirtlichen Bedingungen einstellen.  
Wie die Kanadierin Aurora M. Nedelcu von der University of New Brunswick mit US-amerikanischen Kollegen berichtet, wechselt die Kugelalge Volvox im Fall von Zellstress ihr Fortpflanzungsverhalten. Sie stellt unter diesen Umständen von ungeschlechtlicher auf sexuelle Reproduktion um. Damit werden nach Ansicht der Forscher schädigende Wirkungen auf die DNA minimiert.
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Die Studie "Sex as a response to oxidative stress:a twofold increase in cellular reactive oxygen species activates sex genes" von Aurora M. Nedelcu, Oana Marcu und Richard E. Michod wird auf der Website des Fachjournals "Proceedings of the Royal Society London B, Biological Sciences" veröffentlicht (DOI:10.1098/rspb.2004.2747).
->   Proceedings of the Royal Society London: Biological Sciences
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Die Kosten der Sexualität
Dass die sexuelle Fortpflanzung im Tier- und Pflanzenreich derart weit verbreitet ist, stellt nach Ansicht von Evolutionsbiologen ein durchaus aufklärungsbedürftiges Faktum dar.

Denn schließlich gibt ein Lebewesen, das sich der geschlechtlichen Vermehrung bedient, nur die Hälfte seines genetischen Materials an die nächste Generation weiter, während es bei der asexuellen Reproduktion die Gesamtheit seiner Gene vererben kann.
->   Evolution of Sex (University of British Columbia)
Sex durch Parasitendruck?
Dieser Verzicht muss also einen triftigen Grund haben, allerdings herrscht in der Wissenschaftsgemeinde Uneinigkeit darüber, welcher das nun ist. Die wohl berühmteste Hypothese zu diesem Thema stammt vom britischen Evolutionsbiologen William Donald Hamilton.

Er argumentierte, dass Sex zur fortwährenden Neukombinationen der Gene führe. Und diese Erhöhung der genetischen Vielfalt verhindere, so Hamilton, dass sich Parasiten allzu schnell an ihre Wirte anpassen könnten. Aus dieser Sicht stellt die Sexualität in ihren Ursprüngen also nichts anderes als eine evolutionäre Abwehrstrategie gegen lästige Schmarotzer dar.
->   Mehr zu William Hamilton (Universität Freiburg)
Kugelalge - beliebter Modellorganismus
Ein in Sachen Sex äußerst beliebter Modellorganismus ist die Kugelalge Volvox carteri, die sich auf zwei verschiedene Weisen fortpflanzen kann. Zum einen die ungeschlechtliche (vegetative) Variante, bei der einfach genetisch idente Tochterkolonien freigesetzt werden.

Unter bestimmten Umständen greift die Alge aber auch auf die sexuelle Vermehrung zurück, die - wie aus dem Schulunterricht bekannt - zur Verschmelzung von Ei- und Samenzellen führt.
->   Lebenszyklus von Volvox carteri (Uni Regensburg)
Stress fördert Produktion schädlicher Substanzen
Unter welchen Bedingungen letzteres der Fall ist, haben nun Aurora M. Nedelcu und ihre Kollegen untersucht. Bereits in früheren Studien war den Biologen aufgefallen, dass die Alge vor allem dann von der Sexualität gebraucht macht, wenn die Lebensumstände besonders widrig sind.

Die aktuellen Experimente bestätigen diesen Zusammenhang: Die Forscher wiesen nach, dass künstlich oder natürlich ausgelöster Zellstress bei Volvox mit einer erhöhten Produktionsrate von schädlichen Sauerstoffverbindungen ("reactive oxygen species", kurz: ROS) einhergeht. Diese sind dafür bekannt, dass sie Biomoleküle schädigen, allen voran die DNA.
Sex als Antwort auf Stress
Betrug die Menge der ROS-Moleküle das zweifache des Normalwerts, reagierte die Alge automatisch mit einer Umstellung ihrer Fortpflanzung. Sie pflanzten sich fortan nur mehr sexuell fort. Dieser Zusammenhang dürfte kein zufälliger sein:

Nedelcu und Mitarbeiter zeigten nämlich, dass ROS-Moleküle direkt zur Aktivierung von Genen führen, die wiederum für die geschlechtliche Vermehrung notwendig sind.
Hypothese: Meiose schützt die DNA
Diese Ergebnisse passen gut ins Konzept der so genannten DNA-Reparatur-Hypothese, derzufolge Sexualität vor allem zum Schutz des Erbguts entwickelt wurde.

Die Forscher argumentieren, dass sich die Vorgänge während der Meiose (auch als sexuelle Reifeteilung bekannt) sehr gut dazu eignen, um etwaige DNA-Schäden auszubessern:

"Sex ist im Wesentlichen die Erhaltung der Gesundheit des Erbguts, das an die Nachkommen weiter gegeben wird", bringt Ko-Autor Richard Michod seine These auf den Punkt. Sex sei also nicht als ein Vorgang im Dienste der Reproduktion anzusehen, sondern vor allem als Antwort auf Stress.
->   Meiose bei Wikipedia
Erster Nachweis bei mehrzelligem Organismus
Michod betont außerdem, dass man bereits an Einzellern ähnliche Ergebnisse gewonnen habe: "Bei mehrzelligen Organismen gab es dafür aber noch keine Hinweise. Ich bin begeistert."

Da der Zusammenhang zwischen Zellstress und der Produktion von schädlichen Sauerstoffverbindungen relativ weit verbreitetet ist, vermuten die Forscher, dass ihre Hypothese auch für eine Reihe anderer Arten zutrifft.
->   Website von Aurora M. Nedelcu (Univ. of New Brunswick)
->   Website von Richard E. Michod (Univ. of Arizona)
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   Sexualität: Affen zeigen komplexe neuronale Prozesse (2.2.04)
->   Komplex: Wie Singvögel singen und zugleich tanzen (23.1.04)
->   Mehrzeller überlebt seit Millionen Jahren - ohne Sex (20.1.04)
->   Das Stichwort Sex im science.ORF.at-Archiv
 
 
 
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01.01.2010