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Das Gen, das den Daumen macht  
  Unsere Hand gilt als Geniestreich der Evolution, weil sie uns eine präzise Manipulation von Gegenständen ermöglicht. Anatomisch betrachtet ist dabei vor allem der Daumen ein Sonderling: Er steht seitlich ab und ist auch beweglicher als die anderen Finger. Wie diese besondere Form der Hand entsteht, haben nun Schweizer Biologen aufgeklärt. Sie konnten zeigen, dass der Daumen seine Position einer fein regulierten Signalkaskade von Entwicklungs-Genen verdankt.  
Wie eine Forschergruppe um Jozsef Zakany von der Universität Genf berichtet, spielt in diesem Prozess das Gen "Sonic Hedgehog" eine Schlüsselrolle, das nur auf einer Seite der Hand aktiviert wird. Mäuse, bei denen diese asymmetrische Gen-Aktivierung aufgehoben wurde, besaßen zwei kleine Finger - also streng spiegelsymmetrische Pfoten.
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Die Studie "A Dual Role for Hox Genes in Limb Anterior-Posterior Asymmetry" von József Zákány, Marie Kmita und Denis Duboule erschien im Fachjournal "Science" (Band 304, S. 1669-72 , Ausgabe vom 11.6.04; DOI: 10.1126/science.1096049).
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Wo ist vorne und hinten?
Damit aus einer amorphen Masse von Zellen ein komplizierter Organismus entstehen kann, bedarf es eines genetischen Entwicklungsprogramms, das u.a. festlegt, wo im Körper vorne und hinten ist.

Dafür bedürfen Zellen einer so genannten Positionsinformation, die ihnen zeigt, wo sie liegen - und welches Organ sie in Hinkunft zu bilden haben. Diese Information liefern die so genannten Hox-Gene, die im Laufe der Embryonalentwicklung entlang der Körperachse in unterschiedlichem Ausmaß aktiviert werden.

Auf diese Weise wird etwa bei der Fliege der Unterschied zwischen Kopf, Brust und Hinterteil festgelegt, auch beim menschlichen Embryo sind ganz ähnliche molekulare Prozesse im Gang.
->   Vorlesung Entwicklungsbiologie (Uni Bern)
->   Hox Genes (Wikipedia)
HoxD-Gene steuern Entwicklung der Extremitäten
Was im Großen gilt, trifft auch für das Kleine zu: Beispielsweise wird auch die Entwicklung der Extremitäten maßgeblich von Mitgliedern der berühmten Hox-Familie gesteuert, und zwar von den so genannten HoxD-Genen.

So gibt es etwa in der Hand einen auffallenden Unterschied zwischen vorne und hinten, der ebenfalls durch eine Positionsinformation festgelegt wird. Anders ausgedrückt: Der Daumen unterschiedet sich ziemlich stark von den anderen vier Fingern, er steht seitlich ab und ist auch beweglicher als seine vier Kollegen.

Dieser Unterschied geht auf ein Konzert genetischer Signale zurück, wobei die Akteure ihr molekulares Spiel offenbar in zwei Akte unterteilen.
Schauspiel in zwei Akten
Zunächst werden die verschiedenen Mitglieder der HoxD-Familie in der knospenförmigen Region aktiv, aus der später einmal ein Arm wird. Schon bei diesem ersten Schritt zeigt sich, dass zwischen vorne und hinten unterschieden wird:

Die HoxD-Gene agieren vor allem im Kleinfingerbereich, bzw. dort, wo später einmal der kleine Finger entstehen soll.
Konzert der Gene
 
Bild: Science

Wie in einer Bildungsknospe der Extremitäten die Daumen- und Kleinfingerseite festgelegt wird: Die HoxD-Gene sind mit ihrer Wirkung vor allem auf letztere konzentriert.
Zweiter Akt: Der "Igel" betritt die Bühne
Der zweite Akt der Organbildung wird durch den Auftritt des Signalmoleküls "Sonic Hedgehog" eingeleitet, das nicht zufällig den gleichen Namen wie die Hauptfigur eines Sega-Videospiels trägt.

Dieses Molekül verstärkt mittels einer Rückkoppelungsschleife die genetischen Aktivitätsmuster und leitet die eigentliche Bildung der Finger ein.
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"Sonic Hedgehog"
"Sonic Hedgehog" (kurz: SHH) ist ein berühmtes Gen, das zuerst bei der Fruchtfliege entdeckt wurde. Sein Name ("hedgehog", engl. für Igel) stammt ursprünglich von einer mutierten Version, deren Träger mit einer Reihe von pustel- bis stachelförmigen Strukturen übersäht waren. Die ersten beiden Mitglieder wurden nach real existierenden Igelspezies benannt ("desert hedgehog", "indian hedgehog"), das dritte dann nach dem Star des gleichnamigen Videospiels. Mittlerweile wurden auch Gegenstücke von SHH bei Wirbeltieren gefunden.
->   Mehr zu Sonic Hedgehog (Davidson College)
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Genverlust löst zyklopenhafte Fehlbildung aus
Von "Sonic Hedgehog" ist bekannt, dass es auch in anderen Bereichen als ein regelrechter "Bildhauer" in die Embryonalentwicklung eingreift. So spielt es bei der Bildung des Nervensystems eine ganz entscheidende Rolle.

Mäuse, denen das funktionierende SHH-Gen fehlt, leiden an einer bizarren Deformation des Gehirns und Schädels. Sie weisen nur ein einziges über der Nasenwurzel gelegenes Auge auf und sterben für gewöhnlich im letzten Schwangerschaftsdrittel.

Dementsprechend spricht man - in Anlehnung an die einäugigen griechischen Sagengestalten - bei dieser Fehlbildung von Zyklopie.
Symmetrische Genaktivität macht symmetrische Pfoten
Bild: Science
Die Schweizer Biologen gelang es nun, die genaue Abfolge der molekularen Signale bei der Bildung der Extremitäten aufzuklären. Zu diesem Zweck stellten sie mit einer relativ neuartigen Methode ("targeted meiotic recombination") Mäuse mit einer veränderten genetschen Architektur her.

Bei den Nagern war die räumlich asymmetrische Aktivität der HoxD-Gene in Armen und Beinen aufgehoben. Das Ergebnis war bemerkenswert: Die Pfoten der Nager waren fast spiegelsymmetrisch- d.h. sie sahen aus, als hätte das Tier gewissermaßen zwei kleine Finger.

Bild rechts: Die Pfoten der Mausmutanten (B,C) und jene der genetisch normalen Maus (D).
Suche nach der genetischen Kontrollregion
Die Autoren schließen daraus, dass der Unterschied zwischen Daumen und kleinem Finger viel früher festgelegt wird, als man bisher glaubte. Außerdem postulieren sie, dass es eine genetische Kontrollregion ("early limb control region", kurz: ELCR) geben muss, die den ganzen Prozess steuert.

Wie Jacqueline Deschamps vom Hubrecht Laboratory in Utrecht in einem Begleitkommentar ausführt, wirft die aktuelle Untersuchung neues Licht auf die komplexe genetische Kaskade der Arm- bzw. Beinentwicklung.

Wie der Daumen zum Daumen wird, kann man zwar jetzt genauer sagen - vollständig ist die Kenntnis der beteiligten Moleküle aber noch immer nicht.

Robert Czepel, science.ORF.at
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Der Artikel "Hox Genes in the Limb: A Play in Two Acts" von Jacqueline Deschamps erschien im Fachjournal "Science" (Band 304, S. 1610-11 , Ausgabe vom 11.6.04; DOI: 10.1126/science.1099162).
->   Zum Orginalartikel (kostenpflichtig)
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->   Uni Genf
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01.01.2010