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"Gespaltener Westen": Habermas setzt auf Europa  
  "Nicht die Gefahr des internationalen Terrorismus hat den Westen gespalten, sondern eine Politik der gegenwärtigen US-Regierung, die das Völkerrecht ignoriert, die Vereinten Nationen an den Rand drängt und den Bruch mit Europa in Kauf nimmt": Bereits mit dem ersten Satz kommt der Philosoph Jürgen Habermas in seinem neuen Interview- und Essay-Band "Der gespaltene Westen" zur Sache.  
Anlass sind der Irakkrieg und die ebenfalls als völkerrechtswidrig bewertete nationale Sicherheitsdoktrin, mit der sich die USA das Recht zu militärischen Präventivschlägen nehmen.
Sorge um die besten Traditionen Amerikas
Habermas, der nüchterne Wortwäger und Theoretiker einer demokratischen Diskursgesellschaft, ist spürbar empört. Er sieht die besten Traditionen Amerikas gefährdet - die Wurzeln der politischen Aufklärung um 1800, den reichen Strom des Pragmatismus und den nach 1945 wiederkehrenden Internationalismus.

Beunruhigt seien vor allem diejenigen, die die sich mit diesen Traditionen "ein Leben lang identifiziert haben". Kein Zweifel, hier meint der Autor sich selbst.
Vision einer Welt-Innenpolitik
Sozusagen als Gegenentwurf zu einer dem Völkerrecht widersprechenden Pax Americana a la George Bush skizziert Habermas die Vision einer Welt-Innenpolitik. Ihm geht es nicht um eine Weltregierung oder gar einen Weltstaat - das hält Habermas für unrealistisch und nicht einmal wünschenswert.

Stattdessen entwirft er ein System mit mehreren politischen Ebenen, das eine Welt-Innenpolitik ohne Weltregierung möglich machen könnte. Dafür sind handlungsfähige Akteure nötig, die wirksame Kompromisse schließen und weltweit durchsetzen können. Die Europäische Union könnte für Habermas das erste Beispiel für einen solchen kontinentalen Zusammenschluss von Nationalstaaten sein.
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"Der gespaltene Westen"
In mehreren Interviews, die nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 entstanden - für Fachzeitschriften und damit selbst einer interessierten Leserschaft kaum bekannt -, analysiert Habermas in seinem neuen Buch die Ursachen von Fundamentalismus und Terror, die Rolle Europas und die Bedingungen von Krieg und Frieden.

Jürgen Habermas "Der gespaltene Westen" Suhrkamp Verlag, Frankfurt, 194 S.
->   Mehr über das Buch (Suhrkamp)
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Zwischen Kants weltbürgerlicher Ordnung ...
Der zentrale Essay des Bandes trägt den etwas sperrigen Titel "Das Kantische Projekt und der gespaltene Westen". In dem erstmals veröffentlichten, 80 Seiten langen Text geht Habermas der Frage nach, ob die Konstitutionalisierung des Völkerrechts noch eine Chance hat.

In seinen staatsrechtlichen, philosophischen und völkerrechtlichen Argumentationen arbeitet sich Habermas vor allem an Immanuel Kants (1724-1804) in der Schrift "Zum Ewigen Frieden" dargelegten Vision einer weltbürgerlichen Ordnung ab - und an dem ursprünglich auf das Dritte Reich gemünzten Entwurf einer "Völkerrechtlichen Großraumordnung".

Sie stammt von dem fachlich brillanten, aber wegen seiner Zusammenarbeit mit dem Naziregime bis 1936 umstrittenen Staatsrechtler Carl Schmitt (1888-1985).
... und Schmitts Völkerrecht ohne Gerechtigkeit
Die "Völkerrechtliche Großraumraumordnung" sieht im Kern vor, dass imperiale Mächte ihre Einflusssphären auch mit militärischer Gewalt behaupten dürfen. Gerechtigkeit und internationales Rechtsbewusstsein spielen dabei keine Rolle. Eine solche Völkerrechtsordnung basiert nur auf dem Gleichgewicht der Mächte.

Habermas begründet seine lange Auseinandersetzung mit diesem (seiner Philosophie widerstrebenden) Projekt damit, dass "es einen fatalen Zeitgeist-Appeal gewinnen könnte".
Interkultureller Dialog unmöglich?
Die Vorstellung, dass die Weltgemeinschaft friedlich auf der Basis westlicher Werte zusammenleben könnte, scheine sich nämlich für viele Intellektuelle als Illusion erwiesen zu haben. So nennt Habermas den von Samuel Huntington prophezeiten "Kampf der Kulturen" mit der pessimistischen Einstellung, dass ein interkultureller Dialog auf der Grundlage westlicher Werte letztlich gar nicht möglich sei.
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Bild: dpa
Jürgen Habermas
Jürgen Habermas ist Professor emeritus der Goethe-Universität Frankfurt/Main und lehrt an der Northwestern University in Chicago. Zu seinen neueren Buchpublikationen gehören: Theorie des Kommunikativen Handelns (1981); Der philosophische Diskurs der Moderne (1985); Faktizität und Geltung (1992); Die Einbeziehung des Anderen (1996); Die postnationale Konstellation(1998); Wahrheit und Rechtfertigung (1999); Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Wege zu einer liberalen Eugenik? (2001); Glauben und Wissen (2001); Zeitdiagnosen (2003).
->   Person, Werk und Rezeption von Habermas (Uni Magdeburg)
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"Modernisierte Großraumtheorie" als kleineres Übel
Trotz erheblicher Bedenken empfiehlt sich aber laut Habermas eine "modernisierte Großraumtheorie" als "ein nicht ganz unwahrscheinlicher Gegenentwurf zur unipolaren Weltordnung des hegemonialen Liberalismus".

Entkleidet von akademischer Diktion meint Habermas wohl: Statt einer vom westlichen Turbo-Kapitalismus und den USA beherrschten Welt wäre eine in verschiedene Großregionen und Kulturen aufgegliederte Welt das kleinere Übel - und nichtsdestotrotz bleibt Kants Vision einer weltbürgerlichen Ordnung bestehen.

Matthias Hoenig, dpa/science.ORF.at
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01.01.2010