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Zum 75. Geburtstag von Jürgen Habermas  
  Im Mittelpunkt der Philosophie von Jürgen Habermas, der am Freitag 75 Jahre alt wird, steht die menschliche Kommunikation. Für ihn, der zu den wichtigsten Philosophen der Gegenwart zählt, ist die die rationale Verständigung Voraussetzung für eine aufgeklärte Gesellschaft. Ziel ist eine Kommunikationsgemeinschaft, in der nur das zwanglose Argument bestimmend ist.  
Habermas sieht sich keineswegs als rein akademischer Philosoph. Trotz seiner umfangreichen theoretischen Produktion findet er Zeit, häufig in gesellschaftliche Debatten einzugreifen und Partei zu ergreifen.
"Vive le Streit!"
Bild: dpa
Jürgen Habermas
Das hat ihm nicht nur Anhänger gebracht, die ihn als "moralisches Gewissen" Deutschlands" bezeichnen. Gegner wie Peter Sloterdijk sprechen von einer "herrischen Geste" des Meisterdenkers.

Habermas unermüdliche Ausführungen über die Bedeutung des kommunikativen Handeln spalten auch die akademische Rezeption. Sein viele tausend Seiten umfassendes Werk wird einerseits bewundert, andererseits als ewige Wiederkehr des Gleichen bezeichnet.

Die Anhänger von Habermas - wie Axel Honneth oder Stefan Müller-Doohm - sehen in ihm den bedeutendsten lebenden Intellektuellen Deutschlands. Seine Gegner - wie Manfred Geier oder Lutger Lütkehaus - betrachten ihn als langweiligen Vielschreiber, der sich in seiner Selbstbezogenheit wohl fühlt.
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Biografisches: Neigung zum Marxismus
Der am 18. Juni 1929 in Düsseldorf geborene Habermas - aufgewachsen in einem konservativen Elternhaus - kam nach seinem Studium der Philosophie, Geschichte, Literatur und der Ökonomie als Forschungsassistent an das Frankfurter Institut für Sozialforschung. Dort verstand er sich zwar gut mit Theodor Adorno, erregte aber wegen seiner aufkeimenden Neigung zum Marxismus das Missfallen von Max Horkheimer. "Er trägt trotz aller Gescheitheit Scheuklappen", bemerkte Horkheimer.
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Der Positivismusstreit
Marxistische Positionen vertrat Habermas auch nach seiner Berufung 1964 als Professor für Philosophie in Frankfurt am Main. In diesen Jahren engagierte er sich im so genannten Positivismusstreit in der deutschen Soziologie.

Es ging dabei um die Auseinandersetzung zwischen dem kritischem Rationalismus von Karl Popper/ Hans Albert und der Kritischen Theorie von Max Horkheimer/Theodor Adorno.

Habermas unterstützte die These Adornos, dass man gesellschaftspolitische Theorien nicht wie naturwissenschaftliche Thesen einfach falsifizieren und damit verbessern könne. Ihm ging es vielmehr um eine Emanzipation von gesellschaftlichen Zwängen.
Im Auge des Taifuns
Das engagierte Eintreten für marxistische Thesen machte Habermas - neben Herbert Marcuse, Wolfgang Abendroth und Oskar Negt - zum gefragten Gesprächspartner der revoltierenden Studenten im Jahr 1968.

Allerdings wandte er sich entschieden gegen die wachsende Radikalisierung der Studenten, die sich in Aufrufen zur symbolischen Gewalt artikulierte.

Er warf ihnen eine "Taktik der Scheinrevolution" vor. Schließlich fiel das böse Wort vom "linken Faschismus", das das Ende der Diskussion mit der radikalen Linken bedeutete.
Rückzug als Konsequenz
Als Reaktion auf die enttäuschenden Erfahrungen mit der Studentenbewegung zog sich Habermas aus dem akademischen Betrieb zurück. Gemeinsam mit Carl Friedrich von Weizsäcker gründete er das Starnberger Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt.

Dieses Institut, an dem er von 1971 bis 1981 tätig war, bot ihm die Gelegenheit, seine bisherigen marxistischen Positionen zu überdenken.
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Literaturhinweis
Die wichtigsten Bücher von Habermas wie "Theorie des kommunikativen Handelns", "Faktizität und Geltung", "Erkenntnis und Interesse" und der "Philosophische Diskurs der Moderne" sind im Suhrkamp Verlag erschienen.

Detlef Horsters Einführung zu Habermas wurde im Junius Verlag veröffentlicht. Walter Reese Schäfer publizierte ebenfalls eine Einführung zu Habermas im Campus Verlag. Rolf Wiggershaus verfasste eine Monografie zu Habermas in der Reihe Rowohlts Monografien (Band 50 644).
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Linguistic turn
Im Zentrum der Überlegungen von Habermas stand nunmehr die sprachtheoretische Grundlegung der Sozialphilosophie - die Philosophie des kommunikativen Handelns - die sich an die Sprachspieltheorie von Ludwig Wittgenstein anlehnt.

Er revidierte die marxistische These vom Vorrang der ökonomischen Produktionsverhältnisse. Sein Ziel war es, grundlegende rationale Regeln und Prinzipien zu rekonstruieren, die der sprachlichen Verständigung zu Grunde liegen.
Die "ideale Sprechsituation"
Der Kern der Habermasschen Kommunikationstheorie ist der Begriff der "idealen Sprechsituation", die von Herrschaftsfreiheit, Gleichberechtigung und Aufrichtigkeit bestimmt wird.

Diese Bedingungen werden in der Nachfolge Immanuel Kants als Regulative angesehen. Habermas ist nicht so naiv, anzunehmen, dass diese Voraussetzungen im Alltagsgespräch anzutreffen sind.
"Theorie des kommunikativen Handelns"
In seinem 1981 publizierten Hauptwerk "Theorie des kommunikativen Handelns" beschrieb Habermas den Prozess einer zunehmenden Rationalisierung der Lebenswelt.

Unter Lebenswelt versteht er die dem Menschen vertraute Welt der Kommunikationsgemeinschaft, in die er seit seiner Geburt eingebunden ist. Diese vitale Lebenswelt unterliegt einem wachsenden "Kolonialisierung" durch die verschiedene zweckrationale Systeme wie Technologisierung und Profitmaximierung.
Neuausrichtung der Vernunft
Habermas plädiert für eine Wende von der Verherrlichung der reinen Rationalität hin zur Kommunikationstheorie:

Die Vernunft richtet sich neu aus - sie vollzieht sich nicht länger auf der Ebene der Rationalität, sondern in der kommunikativen Verständigung zwischen den Menschen, in einem kommunikativen Handeln, das auch die Lebenswelt bestimmt.
Ort der Versöhnung für die Moderne
Das Ziel des kommunikativen Handelns besteht in einer wechselseitigen Anerkennung der kommunizierenden Subjekte.

Als symbolisch vermitteltes und auf Gegenseitigkeit beruhendes Handeln stellt sie eine Sphäre nicht entfremdeter Kommunikation dar. Hier ist der Ort der Versöhnung der mit sich selbst zerfallenen Moderne, für die sich Habermas verantwortlich fühlt.
Auswirkungen auf die Ethik
Der Vorrang des kommunikativen Handelns bestimmt auch die Diskursethik von Habermas:

Auf Grund von Verfahrensregeln soll ein rationaler Konsens über strittige Fragen herbeigeführt werden. Dies erfolgt in einem praktischen Diskurs, an dem alle Beteiligten teilnehmen, um das beste Argument zu ermitteln.

Somit gibt die Diskursethik keine moralischen Aussagen vor, sondern sie entsteht in einem formalen, prozeduralen Verfahren.
Auswirkungen auf die Demokratie
Auch in seinen Überlegungen zur Rechtsphilosophie bezieht sich Habermas auf die argumentative Vernunft.

In seinem 1992 publizierten Buch "Faktizität und Geltung" strebt er eine Vermittlung zwischen einer soziologischen Rechtstheorie und einer philosophischen Gerechtigkeitstheorie an.

Er spricht von einer deliberativen Demokratie; deliberativ meint dabei, eine Entscheidung durch sorgfältige Überlegung zu treffen. "Gültig sind dann genau die Handlungsformen", meint Habermas, "denen alle möglicherweise zustimmen könnten".
Für eine Streitkultur
Deliberativ heisst jedoch keineswegs Konsens um jeden Preis; das hat Habermas als streitbarer Intellektueller oft genug bewiesen. So beteiligte er sich 1986 am so genannten Historikerstreit, in dem es um die Verharmlosung des Nationalsozialismus seitens deutscher Historiker wie Ernst Nolte oder Michael Stürmer ging.

Weitere Interventionen betrafen die Folgen des Globalisierungsprozesses, die "Bestialität und Humanität im Kosovo-Krieg" und die außenpolitische Erneuerung Europas nach der Irakintervention der Vereinigten Staaten.
->   "Gespaltener Westen": Habermas setzt auf Europa (14.6.04)
->   Habermas, Derrida & Co fordern Erneuerung Europas (30.5.03)
Alterswerk: Hinwendung zur Religion?
Besonders überrascht jedoch Habermas Hinwendung zur Religion, die sich in den letzten Jahren abzeichnet.

In der Religion ortet Habermas eine Qualität, die vielfach schon verloren gegangen ist, nämlich eine "Sensibilität für verfehltes Leben und die Deformation entstellter Lebenszusammenhänge".

Es könnte aber die Hinwendung zu einem Motiv sein, das Habermas sein ganzes Leben verfolgte, das er nach eigener Angabe in der jüdischen Mystik und auch bei Schelling vorfand: Dieser "motivbildende Gedanke ist die Versöhnung mit der sich selbst zerfallenden Moderne".

Nikolaus Halmer, Ö1-Wissenschaft
->   Person, Werk und Rezeption von Habermas (Uni Magdeburg)
->   Mehr zu Habermas in science.ORF.at
 
 
 
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01.01.2010