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Zur Filmtheorie Siegfried Kracauers  
  Der Filmtheoretiker Siegfried Kracauer (1889-1966) ist vor allem als Verfechter des Realismus bekannt. Neben Film als "Esperanto des Auges" und als "Monolog des kollektiven Unbewussten" fasst Kracauer Film auch utopisch als "Schild des Perseus": als Potenzial, die Wirklichkeit nicht nur sichtbar zu machen, sondern auch zu "durchdringen" - und somit zu verändern. Der Sprachwissenschaftler Markus Rheindorf untersucht am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften die Filmtheorie Kracauers, nachzulesen in einem Gastbeitrag.  
"... die Einheit alles Tönenden überhaupt ..."

Von Markus Rheindorf

Als einer der wichtigsten Theoretiker der frühen Filmtheorie ist Siegfried Kracauer (1889-1966) vor allem als Verfechter des filmischen Realismus bekannt. In der Fachgeschichte der Filmtheorie wurde er allerdings lange Zeit als "naiver Realist" gehandelt, seine kritische Haltung gegenüber dem Tonfilm als eine rückwärtsgewandte Ablehnung einer Erweiterung der filmischen Möglichkeiten gesehen.

Damit geht in der Fachgeschichte wie auch in der Kracauer-Rezeption für gewöhnlich eine Reduktion der vielfältigen Veränderungen und Widersprüche im Verlauf von Kracauers Theoriebildung einher. Gerade diese Widersprüche zuzulassen und durchzuhalten, erweist sich für eine Kulturgeschichte der frühen Filmtheorie als fruchtbarer Zugang.
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Markus Rheindorf hält am Montag, 21. Juni 2004, um 18.00 Uhr seinen Vortrag unter dem Titel "... die Einheit alles Tönenden überhaupt ...": der Tonfilm in Siegfried Kracauers filmkritischen und filmtheoretischen Schriften", am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien.
->   IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften
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Metapher der "Filmsprache"
Besonders seit dem strukturalistischen Turn in der Filmtheorie Anfang der 1970er Jahre wird die frühe Theorie, insbesondere Kracauers, als impressionistisch und unsystematisch wahrgenommen.

Dass dabei explizit der Versuch unternommen wurde, der Metapher der "Filmsprache" ein für alle Mal auf den Grund zu gehen und die damit verbundene Analogie entweder zu bestätigen oder zu widerlegen, ist kein Zufall. Tatsächlich kommt der Sprache bzw. der Idee von "Sprachlichkeit" in der frühen Filmtheorie große Bedeutung zu.
"Sprache im Film" - "Film als Sprache"
Einerseits ist also der Begriff von der "Sprache im Film" für Kracauers Tonfilmkonzeption ausschlaggebend. Andererseits bestimmt der Begriff vom "Film als Sprache" seinerseits über eine Festlegung des Sprachbegriffs und der Wertigkeit von Sprache bzw. Sprachlichkeit das Konzept von "Sprache im Film".

Diese medientheoretischen Zusammenhänge, in all ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit, lassen sich wohl gemerkt nicht nur bei Kracauer feststellen; sie gelten in nur wenig eingeschränktem Ausmaß für den Großteil der frühen Filmtheorie. Von der traditionellen Fachgeschichte abweichend lässt sich über den Begriff der "Sprache des Films" eine Rehistorisierung von Kracauers oft widersprüchlichen Positionen vollziehen.
Drei große Filmkonzeptionen
Es finden sich in Kracauers Schriften drei große Filmkonzeptionen; alle drei greifen auf die Metaphorik der "Sprache" des Films zurück, verbinden jedoch auf sehr unterschiedliche Weise deskriptive und präskriptive Momente.

- In der ersten dieser Konzeptionen entwirft Kracauer Film als eine Universalsprache, eine Art "Esperanto des Auges".

- Die zweite begreift Film, und macht ihn gleichzeitig lesbar, als den unaufhörlichen inneren Monolog des kollektiven Unbewussten einer Nation oder Epoche. Genauer gesagt ist Film hier die Sprache, in der sich dieser Monolog manifestiert.

- Im Rahmen der dritten großen Filmkonzeption steht Film im Spannungsfeld zwischen einer "Sprache der Dinge" und einer "Sprache der Menschen": zwei Pole, mit denen Kracauer einerseits unverfälschte Vieldeutigkeit und andererseits manipulierte, montierte Eindeutigkeit verbindet.
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Eine Chronologie der Konzepte
Aus historischer Sicht folgen diese drei Konzepte aufeinander. Sie lösen einander dabei jedoch nicht vollständig ab, es übernimmt jeweils ein Konzept die Führung und drängt die beiden anderen in den Hintergrund.

Die mit den Bildern Esperanto, Monolog und Dingwelt verbundenen Möglichkeiten, Film als Sprache zu denken, dominieren also bestimmte Zeiträume im Laufe von Kracauers Theoriebildung. Diese Zeiträume lassen sich näher bestimmen als die 1920er und 1930er Jahre, die 1940er Jahre sowie die 1950er Jahre.
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Hintergrund für Kritik am Tonfilm
Nur vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Funktionen, die Kracauer für den Film einfordert, ist seine Ende der 1920er Jahre einsetzende Kritik am Tonfilm und dessen Verwendung von Sprache als eine Kritik am Erkenntnispotential des Films zu verstehen. Eine Analyse der Verbindung der Konzepte "Sprache im Film" und "Film als Sprache" kann dabei entscheidendes leisten.

Eine kulturgeschichtliche Perspektive eröffnet sich jedoch erst dann, wenn man Kracauers globale Ansätze, Film als Sprache zu denken, als durch ihre gesellschaftlichen Kontexte ermöglicht bzw. eingeschränkt begreift.
Ein Mittel der Völkerverständigung
Wenn Kracauer etwa in der Zeit der Weimarer Republik Film als ein "Esperanto des Auges" entwirft, so sieht er darin ein Mittel der Völkerverständigung. Angesichts der von Chaplin bereits umgesetzten "Sprache des Films" sieht Kracauer Klassenzugehörigkeit, Religionsbekenntnis, Vaterland und Reichtum bedeutungslos werden.
Pathologisierung des deutschen Nationalcharakters
Im Gegensatz dazu steht Kracauers zirkuläres Argument, der deutsche Film habe als innerer Monolog des kollektiven Unbewussten den Aufstieg des Nationalsozialismus ermöglicht, im Kontext der USA der 1940er Jahre im Dienst einer weitgreifenden Pathologisierung des deutschen Nationalcharakters.
Film kontra Medusakopf der Wirklichkeit
Schließlich tilgt Kracauer im Laufe der vom McCarthyismus geprägten1950er Jahre nach und nach die Spuren früherer Überzeugungen, die nun dem Verdacht einer unamerikanischen "Ideologie" ausgesetzt sind.

Im Kontext einer als "common sense" naturalisierten US-amerikanischen Ideologie ist Kracauer von seiner ehemals avancierten Position völlig zurückgezogen, zurückgeworfen auf eine Position, in der das einzige, das er noch als soziales Übel benennen kann, die Verbrechen des Nationalsozialismus sind.

An einem fiktiven Ort außerhalb jeder Ideologie bleiben Verbrechen gegen die Menschlichkeit die letzte Möglichkeit, für den Film eine Konfrontation mit dem Medusakopf der Wirklichkeit zu imaginieren. So bleibt für Kracauer, auch 1960, die Filmleinwand nominal jener sagenhafte Schild der Athena, der es dem Zuseher ermöglicht, dem gespiegelten Grauen den Kopf abzuschlagen.
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Informationen zum Autor Markus Rheindorf
Markus Rheindorf, Mag. phil., studierte Amerikanistik und Angewandte Sprachwissenschaft an der Universität Wien und dissertiert am Institut für Angewandte Sprachwissenschaft zum Thema "Film Language(s): A Cultural History of Early Film Theory". 2003/2004 IFK_Junior Fellow mit dem Projekt Siegfried Kracauers Filmsprache(n).

Publikationen u.a.: It's a Two Way Ticket: Transposing Narratives across the Media Divide, in: TEXT Technology. From Dots to Bodies: Intersections of Cinema and Video Games. Special Issue 2004; Praxen der Reartikulation in den neuen Medien: Texte und Kontexte des Videospielfilms und seiner Rezeption, in: Oswald Panagl/Ruth Wodak (Hg.): Text und Kontext: Theoriemodelle und methodische Verfahren im Vergleich (Wien 2004); "To survive war, you gotta' become war." The Productivity of Pain in Mainstream Action Films, in: Nieves Pascual (Ed.): The Productivity of Pain (2004);
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->   Informationen zu Siegfried Kracauer (www.net-lexikon.de)
->   Weitere IFK-Gastbeiträge in science.ORF.at
 
 
 
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01.01.2010