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Wie aus sozialem Lernen Kultur entsteht  
  Die Weitergabe von erlerntem Verhalten an die nächste Generation ist eine Voraussetzung für die Entstehung von Kultur. Dazu sind neben dem Menschen auch eine Reihe von Tierarten imstande. Das wirft die Frage auf, warum etwa die Menschenaffen kein kulturelles System entwickelt haben, das sich durch Anhäufung von Wissen auszeichnet. Aus Sicht von zwei spanischen Biologen besteht der entscheidende Unterschied zwischen Tier und Mensch in der Fähigkeit, den Lernerfolg der eigenen Nachkommen zu bewerten und zu steuern.  
Laureano Castro und Miguel A. Toro vom "Instituto Nacional de Investigacion y Tecnologia Agraria y Alimentaria" (INIA) kommen zu diesem Ergebnis anhand eines mathematischen Modells, in dem sie die Co-Evolution von Genen und Kultur untersuchten.
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Die Studie "The evolution of culture: From primate social learning to human culture" von Laureano Castro and Miguel A. Toro erschien auf der Website der Fachzeitschirft "Proceedings of the National Academy of Sciences" (doi: pnas.0400156101; Ausgabe vom 22. Juni 2004).
->   PNAS
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Kultur als Vererbungsprozess
Biologen, die die Schnittstelle von Natur und Kultur erforschen, betrachten Kultur gerne als eine Art Vererbungsprozess. Denn wenn etwa Kinder Verhaltensweisen von ihren Eltern nachahmen, dann entspricht das der "Vererbung" von Information an die nächste Generation.

Nur ist die Information in diesem Fall eben nicht in Form von Genen repräsentiert, sondern in Form von Verhaltensmustern, die im Gehirn "gespeichert" werden.
Warum nimmt der Mensch eine Sonderstellung ein?
Daher gilt die Fähigkeit zur Imitation von Verhaltensweisen als Grundvoraussetzung zur Entstehung von Kultur. Allerdings sind neben dem Menschen auch eine Reihe anderer Tierarten dazu fähig.

Warum nahm die Entwicklung bei Homo sapiens dann einen Sonderweg? Dieser besteht, wie Castro und Toro hinweisen, vor allem im kumulativen Charakter der menschlichen Kultur:

Nur bei unserer Spezies haben sich Ideen, Theorien und Erfindungen zu einem großen, mächtigen Gebäude angehäuft. Bei anderen Arten ist es hingegen beim Waschen von Süßkartoffeln und rudimentärem Werkzeuggebrauch geblieben.
Imitation allein genügt nicht
Aus biologischer Sicht ist Nachahmung dann sinnvoll, wenn es dem Individuum "Kosten" erspart, die es in selbständiges Lernen investieren müsste.

Trivial gesprochen: Das Kind lernt das Öffnen einer Nuss mit geringerem Aufwand, wenn es ihm von den Eltern gezeigt wurde. Das ist allerdings nur dann der Fall, wenn es viele Lehrer und wenige Lernwillige gibt. Ist das Verhältnis umgekehrt, dann bleibt die (prä)kulturelle Entwicklung gewissermaßen stecken.

Das Problem für Theoretiker besteht daher im Entwurf eines Szenarios, bei dem genetische und kulturelle Faktoren einander wechselweise fördern. Daher spricht man in diesem Zusammenhang auch von "gene-culture coevolution".
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Literatur 1
Einer der Pioniere der Co-Evolution von Genen und Kultur ist der Physiker Charles Lumsden, der gemeinsam mit dem Soziobiologen E. O. Wilson die Bücher "Genes, Mind and Culture" und "Promethean Fire" veröffentlichte. Im Aufsatz "Gene-culture Coevolution" gibt er einen Überblick zu diesem Forschungsgebiet.
->   Zum Originalartikel (heise.de)
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Die "Gutachter-Perspektive" als Initialzündung
Um aus der Fähigkeit zu Lernen und zu Lehren einen kumulativen Prozess zu machen, bedarf es nach Castro und Toro allerdings noch einer wichtigen Zutat.

Sie zeigen, dass dem Vermögen, den Lernerfolg der eigenen Kinder zu bewerten und zu steuern, eine ganz entscheidende Rolle zukommt. Dieses Einnehmen der "Gutachter-Perspektive" dürfte erstmals von den Vorläufern des Menschen, den Hominiden, entwickelt worden sein.
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Literatur 2
Von Laureano Castro and Miguel A. Toro erschien vor zwei Jahren die kostenfrei abrufbare Studie "Cultural Transmission and the Capacity to Approve or Disapprove of Offspring's Behaviour" im "Journal of Memetics" (Band 6, Heft vom Septmeber 2002).
->   Zum Originalartikel
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->   INIA
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   Die Zellen, die uns menschlich machen (17.6.04)
->   Sind auch Tiere zur Empathie fähig? (29.4.04)
->   Verhalten als Kulturprodukt: "Flower Power" bei Pavianen (14.4.04)
 
 
 
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01.01.2010