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Unsichtbare Artenvielfalt: Plädoyer für eine neue Weltsicht  
  Das Schlagwort der Artenvielfalt macht immer wieder die Runde. Vor allem auf ihre weltweite Bedrohung wiesen in den vergangenen Jahren diverse wissenschaftliche Studien in mehr oder minder drastischen Worten hin. Doch erstaunlicherweise scheint sich dabei selbst die Fachwelt der Tatsache nicht bewusst zu sein, dass das Leben auf der Erde aus weit mehr besteht, als das Auge sehen kann, wie ein schottischer Biologe nun kritisiert. Mit geradezu überwältigender Übermacht finde sich dieses nämlich im mikroskopischen Bereich.  
Die meisten lebenden Organismen sind für das bloße Auge unsichtbar. Doch aus den Augen sollte in diesem Fall nicht aus dem Sinn bedeuten, meint der Biologe Sean Nee von der University of Edinburgh.

Im aktuellen "Nature" hält er ein leidenschaftliches Plädoyer für eine neue Sicht auf die Welt, die endlich auch jene mikroskopisch kleinen Lebewesen mit einschließen soll.
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Der Artikel von Sean Nee ist unter dem Titel "More than meets the eye" in "Nature", Bd. 429, Seiten 804-805, Ausgabe vom 24. Juni 2004 erschienen (doi:10.1038/429804a).
->   Der Originalartikel in "Nature" (kostenpflichtig)
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"Goldenes Zeitalter" der Biodiversität
Grundsätzlich sieht es derzeit gar nicht so schlecht aus mit der noch zu entdeckenden Artenvielfalt, meint Sean Nee. Er sieht uns am Beginn eines "Goldenen Zeitalters" der Biodiversitätsforschung.
Radikaler Blickwechsel notwendig
Doch: Zunächst, so meint er, müsste unser Blick auf die natürliche Welt sich verändern - und zwar "so radikal, wie sich unser Blick auf den Kosmos änderte, als wir begannen, ihn mit Instrumenten zu beobachten, die uns mehr zu sehen erlaubten als das mit dem bloßen Auge Erkennbare."

Denn alle Wunder des "neuen Tierbuches der Biodiversität" seien unsichtbar, formuliert es der Biologe.
Übermacht der Winzlinge
Wie bereits viele Experten betont hätten, sei das Leben auf der Erde nach jedem Maßstab - sei es Biomasse oder die Zahl der Individuen - mikroskopisch. Mit anderen Worten: Winzige Organismen stellen mit geradezu überwältigender Übermacht den größten Teil der weltweiten Artenvielfalt.
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Biodiversität, Artenvielfalt und Co
Der Begriff der Biodiversität - als Kurzform von "biological diversity" in den 1980er Jahren geprägt - umfasst die gesamte biologische Vielfalt der Erde, hierbei ist etwa auch die genetische Variabilität innerhalb einer Art oder die Vielfalt von Ökosystemen einbezogen. Der ebenfalls darin eingeschlossene Terminus Artenvielfalt umfasst wiederum die Mannigfaltigkeit der Arten.

Laut Convention on Biological Diversity der Vereinten Nationen (Art.2) bezeichnet die biologische Diversität die "Variabilität unter lebenden Organismen jeglicher Herkunft, darunter unter anderem Land-, Meeres- und sonstige aquatische Ökosysteme, und die ökologischen Komplexe, zu denen sie gehören; dies umfasst die Vielfalt innerhalb der Arten, zwischen den Arten sowie der Ökosysteme."
->   Convention on Biological Diversity (www.biodiv.org)
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Forschung konzentriert auf das Sichtbare?
Dass dem Laien im Hinblick auf den Artenreichtum in der Regel nur diverse Bewohner der sichtbaren Welt einfallen, mag noch verständlich sein. Doch Nee betont vor allem auch die Tatsache, dass selbst die Fachwelt diese Sichtweise häufig zu teilen scheint.

Er verweist etwa auf ein "Nature"-Special aus dem Jahr 2000, in dem immerhin sechs Artikel sich des Themas Biodiversität angenommen hatten. Doch darin sei kaum etwas erwähnt worden, das ohne Hilfsmittel zu sehen sei.
"Unausgewogenen Perspektive des Lebens"
In Nees Worten waren diese Berichte durchaus eine faire Betrachtung dessen, was derzeit die Biodiversitätsforschung ausmacht: Denn sie sei feste auf die sichtbare Welt fixiert, so der Biologe. Damit aber werde eine unausgewogene Perspektive des Lebens präsentiert.
Biodiversität durch die molekulare Linse
Bild: Nature/Sean Nee
Ein Blick auf das Verhältnis der verschiedenen Lebewesen zueinander verdeutlicht die These des Biologen.

Die molekularen Daten, insbesondere aus DNA-Sequenzen von Genen gewonnen, die für wichtige und in allen Organismen zu findende RNA-Moleküle kodieren, ergeben demnach einen "Baum des Lebens", dessen aus der sichtbaren Welt stammende Bewohner (Tiere, Pflanzen und Pilze) kaum mehr als ein paar kleine Ästchen bevölkern.

Was wiederum, folgt man Sean Nee, nicht eben verwunderlich ist. Immerhin hatte die unsichtbare Lebenswelt mindestens drei Milliarden Jahre Zeit, sich zu diversifizieren und den evolutionären Raum zu erkunden, bevor die "Sichtbaren" auf der Bildfläche erschienen.

Bild rechts: Dieses Schema basiert auf genetischen Daten und zeigt die Beziehung zwischen Organismen der drei Hauptdomänen des Lebens: Bakterien, Archaea und schließlich Eukaryoten.
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Lediglich morphologisch betrachtet "gewinnen" wir
In seinem Artikel betrachtet der Biologe auch verschiedene Arten von Diversität, neben der so genannten phylogenetischen (siehe "Baum des Lebens") geht es etwa auch um die "metabolische Vielfalt" sowie die unterschiedlichen Ökosysteme. In den meisten Fällen schlägt uns die Welt der unsichtbaren Lebewesen bei weitem. Wie Nee beispielsweise ausführt, existieren Kreaturen, die Eisen und Uran "atmen", andere wiederum blühen und gedeihen in heißer Schwefelsäure oder leben gar innerhalb von solidem Gestein. Lediglich in puncto morphologischer Diversität hat die sichtbare Welt die Nase vorn.
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Sentimentalitäten und Egozentrik
Nees Schlussfolgerung aus den präsentierten Tatsachen: "Wir sind sentimental bezüglich der sichtbaren Natur, jedoch schlichtweg egozentrisch gegenüber der unsichtbaren", schreibt er.
Plädoyer für ein "ehrliches Bild"
"Als Biologen müssen wir diese emotionale Unausgewogenheit erkennen und versuchen, sie zu kontrollieren", lautet denn auch Sean Nees Aufruf an die Fachkollegen. Ein "ehrliches Bild" müsse Fachwelt und Öffentlichkeit präsentiert werden.

Die Vernachlässigung der unsichtbaren Welt, so schließt sein Artikel, ist nicht länger akzeptabel, so wie man Astronomie nicht unterrichten könnte, wenn dabei die Existenz von Galaxien außerhalb der Milchstraße geleugnet würde.
->   School of Biological Sciences der University of Edinburgh
->   Das Stichwort Artenvielfalt im science.ORF.at-Archiv
->   Alles zum Stichwort Biodiversität in science.ORF.at
 
 
 
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01.01.2010