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Mutter-Kind-Liebe wird chemisch gesteuert  
  Soziale Beziehungen und ganz besonders die Liebe von Kindern zu ihrer Mutter wird chemisch im Hirn gesteuert - zumindest bei Mäusen. Italienische Forscher züchteten Mäusebabys ohne so genannte Opioid-Rezeptoren im Hirn und fanden keine Spur von Anhänglichkeit oder Verlangen der Jungen nach ihrer Mutter.  
Ein Forscherteam um Francesca D'Amato vom Institut für Neurologie, Psychobiologie und Psychopharmakologie des italienischen Forschungsrats in Rom berichtet davon in der aktuellen Ausgabe von "Science".
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Die Studie ist unter dem Titel "Deficit in Attachment Behavior in Mice Lacking the µ-Opioid Receptor Gene" in "Science" (Bd. 304, S. 1983, Ausgabe vom 25. Juni 2004) erschienen.
->   "Science"
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Ohne Opioid-Rezeptoren völlig ruhig
Wenn Mäuse auf die Welt kommen, sind sie blind, taub und hungrig. Ohne Schutz und Hilfe durch ihre Mutter geht bei ihnen kaum etwas. Wenn man die Mutter von ihren Neugeborenen entfernt, fangen diese herzergreifend zu quietschen an. Entfernt man ihnen aber zusätzlich die neuronalen Rezeptoren für Morphium, so bleiben sie ohne Mutter völlig ruhig.
Normale Mäuse fühlen "körperlichen Schmerz"
Für normale Mäusebabys mit aktiven Opioid-Rezeptoren dagegen gleicht die Abwesenheit der Mutter einem körperlichen Schmerz, erläutern die Forscher. Das Team verabreichte außerdem neugeborenen Nagern ein Schmerzmittel, das auf die Opioid-Rezeptoren im Hirn wirkt. Daraufhin wurden die Mäusebabys ruhig und stellten die Rufe nach ihrer Mutter ein.
Emotionales wie körperliches Leid
"Der emotionale Trennungsschmerz wird vom gleichen (chemischen) Faktor im Hirn gesteuert wie körperlicher Schmerz", schreibt der Verhaltensneurologe Thomas Insel von den US-Gesundheitsinstituten (NIH) in Bethesda (Maryland) in einem "Science"-Begleitkommentar.

Das heiße umgekehrt, dass Babys, die wohlig mit der Mutter kuscheln, die Liebe zu ihr ebenfalls über dasselbe chemische System im Hirn entwickeln.
Gentechnisch veränderte Mäusejunge
D'Amato und ihr Team haben gentechnisch veränderte Mäusejunge geschaffen, denen beide Kopien des "µ-Opioid-Rezeptorgens" fehlen. Dann untersuchten sie das Verhalten der Tiere: einerseits durch Analyse ihrer Schreistärke, andererseits durch den Grad der Vorliebe für verschiedene Nesttypen.
Auch mutierte Mäuse können schreien ...
Zuerst entfernten sie die Mutter von normalen Jungen und steckten diese nach fünf Minuten in einen Becher. War dieser leer, begannen sie unaufhörlich zu schreien, befand sich auf dem Boden an Mutter erinnernde Streu, war ihr Schreien nur halb so stark.

Die Mutantenmäuse gaben hingegen so gut wie keinen Ton von sich, und zwar nicht, weil ihnen prinzipiell der Sinn für Geruch oder Gefahren abhanden gekommen wäre: Sobald sich bedrohliche Männchen näherten, übertrafen die mutierten Tiere in ihren Angstschreien sogar ihre normalen Artgenossen.
... sie können aber nicht ihre Mutter unterscheiden
Danach überprüften sie die Vorliebe der verschiedenen Jungen für familiäre Gerüche, indem sie sie vor die Wahl verschiedener Käfige stellten. Zwischen der ursprünglichen Streu und frischer wählten alle Mäusejungen die vertraute.

Bei der Wahl zwischen dem eigenen Nest und dem einer fremden Mutter entschieden sich die normalen Mäuse für das eigene. Aber nur ein Drittel der mutierten Mäuse tat es ihnen gleich - was nichts anderes heißt, als dass sie nicht zwischen verschiedenen Müttern unterscheiden können.
Eher kein Vergleich mit Menschen
Was die Übertragbarkeit der Studienergebnisse von den Mäusen auf die Menschen betrifft, so raten die Forscher zur Vorsicht. Das menschliche Sozialverhalten unterscheide sich doch zu deutlich von jenem der Nager, deren Familien eher als Kommunen bezeichnet werden können. "Menschliche Bindungen sind selektiv und lange dauernd, was auf Mäuse nicht zutrifft", so Thomas Insel.
Hilfe für Autisten?
Die Versuche könnten aber für die Erforschung von Autismus interessant sein. Weitere Untersuchungen sollen klären, ob sich autistische Kinder möglicherweise wegen eines gestörten Opioid-Systems von ihrer Umwelt abkapseln und unfähig sind, eine engere Beziehung zu ihrer Mutter und anderen Menschen zu knüpfen, schließen D'Amato und Kollegen ihre Studie.

Für Jaak Panksepp von der Green State University in Ohio hat sie aber noch eine ganz andere Bedeutung. Mit Verweis auf bestehende Drogenprobleme warnt er: "Der Umstand, dass junge Menschen die Wärme der menschlichen Liebe auf pharmakologische Weise empfangen können, wenn sie aus ihrem Umfeld zu wenig bekommen, ist die wichtigste gesellschaftliche Aussage dieser Studie."
->   Institut für Neurologie, Psychobiologie und Psychopharmakologie, Rom
->   Italienischer Forschungsrat
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Gehirn: Körperliche und seelische Schmerzverarbeitung ähnlich (10.10.03)
->   Forscher entschlüsseln Auslöser für Sucht (9.4.03)
->   Die chemischen Botenstoffe des Gehirns
 
 
 
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01.01.2010