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Langlebigkeit: "Modernitätsfaktor" der Evolution?  
  Menschen erreichen ein im Vergleich zu anderen Primaten recht hohes Alter. Warum dies so ist, wird nach wie vor diskutiert. Zwei US-Forscherinnen sind nun auf einen neuen Ansatz verfallen. Sie untersuchten das Verhältnis von - relativ betrachtet - alten zu jungen Individuen in der Frühgeschichte der Menschheit und fanden einen deutlichen Anstieg der Langlebigkeit vor rund 30.000 Jahren. Ihre These: Der Beitrag der "Alten" zur sozialen Gruppe oder Familie war so wertvoll, dass damit die negativen Effekte des Alters kompensiert und moderne kulturelle Innovationen begünstigt wurden.  
Ein Ergebnis der Studie: Die Langlebigkeit entwickelte sich erst relativ spät in der menschlichen Geschichte.

"Old is young" titeln denn auch Rachel Caspari and Sang-Hee Lee von den Departments of Anthropology der University of Michigan bzw. der University of California in Riverside ihre Studie, die in den "Proceedings of the National Academy of Sciences" erscheint.
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Die Studie "Old is young" von Rachel Caspari and Sang-Hee Lee erscheint zwischen 5. und 9. Juli 2004 als Online-Vorabpublikation in der "Early Edition" der "PNAS" (doi:10.1073/pnas.0402857101).
->   PNAS Early Edition
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Der Mensch lebt vergleichsweise lange
Der menschliche Lebenszyklus unterscheidet sich ohne Zweifel von dem der meisten Tiere und selbst seiner nächsten Verwandten, der Menschenaffen. Dazu gehört nach Caspari und Lee auch das vergleichsweise lange Leben des Homo sapiens.

Die These der Wissenschaftlerinnen: Die Entwicklung der Langlebigkeit war ein "kritischer demografischer Faktor" in der Entwicklung der menschlichen Kultur.
Langlebigkeit - was heißt das?
"Erhöhte Langlebigkeit" lässt sich den beiden Forscherinnen zufolge an der Anzahl der Individuen ablesen, die das "ältere Erwachsenenalter" erreichen.

Das mag nun wenig aussagekräftig formuliert wirken, doch um die tatsächliche maximale Lebenserwartung unserer Vorfahren geht es in der Studie auch nicht. Dass jene weitaus kürzer gelebt haben, als ihre "Nachkommen" heute, ist allgemein bekannt.
Verhältnis von "alt" zu "jung" im Blickpunkt
Die Forscherinnen hatten vielmehr das zahlenmäßige Verhältnis von (relativ) Alt zu Jung im Blick - und untersuchten dafür fossile Zahnfunde aus verschiedenen Perioden der Menschheitsgeschichte.
Altersschätzung via Zahn-Abnutzung
Insgesamt 768 Fossilienfunde wurden unter die Lupe genommen. Darunter befanden sich spätere Australopitecinen (Vertreter von Australopitecus und Paranthropus), der Gattung Homo zugehörige Individuen aus dem frühen und mittleren Pleistozän, Neandertaler aus Europa und Westasien sowie "Europäer" aus dem frühen Jungpaläolithikum.

Anhand der an den Zähnen erkennbaren Abnutzungserscheinungen wurde das relative Alter der Individuen geschätzt, die in zwei Gruppen eingeteilt wurden:

"Alt" bezeichnet ältere Erwachsene, die rund doppelt so viele Jahre zählten, wie für die Erreichung der Fortpflanzungsfähigkeit angenommen wurde. "Jung" wiederum definiert sich als jüngere Erwachsene, die das Fortpflanzungsalter erreicht haben.
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Details zur Einordnung: Weisheitszähne ausschlaggebend
In ihrer Studie gingen die Forscherinnen davon aus, dass mit Erscheinen der Weisheitszähne das jeweilige Individuum als erwachsen und damit auch fortpflanzungsfähig zu gelten hatte - je nach dem Abnutzungsgrad der Weisheitszähne wurden die Fossilienfunde dann in die Gruppen "ältere" bzw. "jüngere Erwachsene" eingeteilt.
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Trend zur Langlebigkeit bei allen
Die Ergebnisse der Studie: Zum einen stellten die beiden Forscherinnen fest, dass sich bei allen untersuchten Gruppen eine Zunahme der Langlebigkeit findet. Mit anderen Worten: Der Trend zur steigenden Lebenserwartung zieht sich offensichtlich durch die Menschheitsgeschichte.
Plötzlich mehr Alte als Junge
Weitaus interessanter ist allerdings ein weiterer Aspekt: Demnach ist jener Anstieg am weitaus größten bei der Gruppe der Frühmenschen aus dem Jungpaläolithikum. Vor rund 30.000 Jahren fanden sich laut Studie erstmals weniger junge als alte Individuen unter den fossilen Funden.
->   Informationen zum Jungpaläolithikum (wikipedia.org)
Kulturelle Faktoren ausschlaggebend?
Laut den Forscherinnen sind dafür nicht notwendigerweise Veränderungen im Erbgut bzw. eine "genetische Basis" verantwortlich.

Sie glauben vielmehr, dass sich daran kulturelle Faktoren ablesen lassen. Auf irgendeine Weise, so argumentieren Caspari und Lee in den "PNAS", müsste diese Anpassung für die negativen Effekte des Alterns kompensiert haben.
Entwicklung und Überleben von sozialen Gruppen
Ihr Vorschlag: "Wir glauben, diese Anpassung schließt die steigende Bedeutung von generationsübergreifenden Beziehungen ein, die für Entwicklung und Überleben von sozialen Gruppen mit großen Mengen an weiterzugebender komplexer Information kritisch gewesen sein könnten."

Mit anderen Worten: Je älter die Frühmenschen wurden bwz. je größer die Gruppe der Alten war, desto mehr potenziell wichtiges Wissen hatten sie angesammelt. Wissen, das an ihre Nachkommen weitergegeben werden konnte und letztendlich auch für das Überleben von Kindern und Enkeln wertvoll war.

Insbesondere die Langlebigkeit, so spekulieren Caspari und Lee, könnte somit die Entstehung komplexer Verwandtschaftsverhältnisse und anderer sozialer Netzwerke begünstigt haben, die alleine beim Menschen vorkommen.
Demografische und kulturelle Folgen
Die potenziellen demografischen Folgen dieses Szenarios sind signifikant. Wie die Wissenschaftlerinnen berichten, decken sich ihre Ergebnisse mit Studien, denen zufolge sich die Populationen im Jungpaläolithikum ausdehnten - möglicherweise aufgrund von Bevölkerungswachstum, das sich wiederum auch auf die gestiegene Langlebigkeit zurückführen lässt.

Dies aber betrifft ihrer Argumentation zufolge auch die "Evolution von Modernität", wie sie es nennen. Denn durch das Bevölkerungswachstum könnten sich Modellen zufolge die Bedingungen etwa für Handelsnetzwerke, stärkere Mobilität und komplexere Systeme von Kooperation und Wettbewerb zwischen sozialen Gruppen ergeben haben.
Modernität als komplexes Konzept
Die beiden Autorinnen weisen zwar darauf hin, dass der Begriff der Modernität ein komplexes Konzept sei, bei dem sowohl biologische als auch kulturelle Variablen eine Rolle spielten.

Doch sie glauben, dass - falls es einen einzelnen und fundamentalen biologischen Faktor gibt, der den Innovationen der Modernität zugrunde liegt - die Zunahme der älteren Individuen vor rund 30.000 Jahren ausschlaggebend gewesen sein könnte.
->   Department of Anthropology der University of Michigan
->   Department of Anthropology der University of California, Riverside
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   Wie aus sozialem Lernen Kultur entsteht (23.6.04)
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01.01.2010