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Evolution braucht "öffentliche Information"  
  Futtersuche, Partnerwahl und Nistentscheidung: Bei diesen und vielen anderen Dingen verlassen sich Tiere nicht nur auf ihre Instinkte, sondern beobachten und imitieren auch das Verhalten ihrer Artgenossen. Grundlage ihrer Entscheidungen sind Informationen, die von ihren Mittieren unbeabsichtigt geliefert werden. Biologen glauben, dass diese Informationen an die nächste Generation weitergegeben werden können - und für die Evolution vielleicht genauso wichtig sind wie genetisch vererbte Eigenschaften.  
Eine Gruppe internationaler Evolutionsbiologen - darunter Richard Wagner vom Konrad Lorenz Institut für Vergleichende Verhaltensforschung - gehen ihrer Bedeutung in einem Review-Artikel von "Science" nach.

Sie schlagen einen vereinigenden Begriff vor: "Öffentliche Information". Tiere und Pflanzen gewinnen sie durch Imitation ihrer Artgenossen. Diese Imitationen führen zu einer Überlieferung von Verhaltensmustern - kulturelle Evolution ist demzufolge nicht alleine auf Menschen beschränkt. Und hat auch Konsequenzen für die Evolution an sich.
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Der Artikel "Public Information: From Nosy Neighbors to Cultural Evolution" ist in "Science" (Bd. 305, S. 487, Ausgabe vom 23. Juli 2004) erschienen.
->   "Science"
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Genetisch geerbte Information reicht nicht
Die Ausgangsthese der Biologen ist simpel: Bei der Verfolgung des "evolutionären Ziels" - größtmögliche Fitness - sind Lebewesen immer wieder vor eine Reihe von Fragen gestellt: Wo Futter suchen, mit wem paaren, wo brüten und dergleichen. Nachdem die Umweltbedingungen selten konstant bleiben, reicht der Rückgriff auf genetisch geerbte Information nicht aus: Auch der Erwerb aktueller Information ist vonnöten.
Deshalb persönliche und soziale Information
Und dabei gibt es zwei Möglichkeiten. Zum einen persönlich erworbene Information - erworben durch "Trial and Error"-Strategien in der Auseinandersetzung mit der Umwelt. Zum anderen soziale Information - erhalten durch die Beobachtung von anderen.

Besonders wichtig dabei sind Signale von Artgenossen, die unbeabsichtigt - also in der effizienten Durchführung einer Tätigkeit und nicht zur Information anderer - gesetzt werden. Diese nennen die Autoren "ISI: inadvertent social information".
Drei Beispiele, total ISI
Bild: Science
Dreizehenmöwe mit Nachwuchs
ISI-Beispiele aus dem Tierreich zu finden, fällt Wagner und seinen Kollegen leicht. Beispiel Nahrungssuche: Norwegische Ratten (Rattus norvegicus) vertrauen bei der Konfrontation mit unbekanntem Futter auf den Atem ihrer Begleiter.

Beispiel Habitat: Die Dreizehenmöwe (Rissa tridactyla) kopiert bei der Wahl nach einem neuen Nistplatz das Verhalten "erfolgreicher" Artgenossen.

Und Beispiel Partnerwahl: Wie auch bei zahlreichen anderen Fischen (und Vögeln) beobachtet wurde, orientiert sich auch die Paarungsentscheidung weiblicher Guppies (Poecilia reticulata) am Paarungsverhalten ihrer Mitfische.
Kultur: Unterschiede von Traditionen und Informationen
Aus der Nutzung dieser öffentlichen Information könnte so etwas wie kulturelle Evolution entstehen. Wobei die Biologen unter Kultur "die Summe der Traditionen und Informationen" verstehen, "die zwischen Gruppen variiert."

Die Übermittlung dieser Differenzen an die nächsten Generationen beruhe auf sozialen Interaktionen - nicht auf genetischer Vererbung -, "die den Phänotyp dauerhaft verändern".
Kulturelle und genetische Weitergabe
 
Grafik: Science

Wagner und Kollegen verweisen auf eine aktuelle Studie aus der Zeitschrift "Evolution", in der die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen kultureller und genetischer Weitergabe unterstrichen werden (siehe Grafik aus "Science").

Die meisten Eigenschaften von Evolution qua natürlicher Selektion (Variation, Selektionsdruck und Vererbbarkeit) würden auch für das gelten, was sie "kulturelle Selektion" nennen. Ein entscheidender Unterschied bestehe freilich darin, dass kulturell erworbene Eigenschaften an die nächste Generation weitergegeben werden können.
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Die Studie "Is human cultural evolution Darwinian? Evidence reviewed from the perspective of the origin of species" von Alex Mesoudi, Andrew Whiten, and Kevin N. Laland ist in "Evolution" (Bd. 58, Jänner 2004) erschienen.
->   Original-Abstract in "Evolution"
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Guppies drehen genetische Vorlieben kulturell um
Als Beispiel führen die Forscher wiederum die Guppies an: Die weiblichen Vertreter dieser Fischart scheinen eine vererbbare (nicht-kulturelle) Vorliebe für hellhäutige Männchen zu haben.

Dennoch können sie auch eine Präferenz für dunkelfarbigere erwerben: Vorausgesetzt sie beobachten über einen genügend langen Zeitraum andere Weibchen dabei, wie sich diese mit dünkleren Männchen paaren. Die bevorzugte Partnerwahl, so schreiben die Forscher, "kann also durch den Gebrauch von öffentlicher Information kulturell umgedreht werden".
"Public Information" für Theorie und Praxis
Diese "Public Information" (PI) schlagen Wagner und Kollegen als vereinigenden Begriff vor für Prozesse, bei denen Entscheidungen auf Grund von Informationen anderer getroffen werden - und zwar nicht nur von kognitiv komplexeren Organismen, sondern selbst von Pflanzen. Dies könne nicht nur die Theorie der Evolution bereichern, sondern auch bessere Vorhersagemöglichkeiten eröffnen.

Die so verstandene kulturelle Evolution sei möglicherweise grundlegender und weiter verbreitet als bisher angenommen. Weitere Forschung soll zeigen, ob eine Reihe von Eigenschaften, deren Weitergabe bisher mit Genetik erklärt wurde, durch kulturelle Transmissionen begriffen werden können.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at
->   Konrad Lorenz Institut für Vergleichende Verhaltensforschung
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Langlebigkeit: "Modernitätsfaktor" der Evolution? (6.7.04)
->   Die Zellen, die uns menschlich machen (17.6.04)
->   Wie aus sozialem Lernen Kultur entsteht (23.6.04)
->   Verhalten als Kulturprodukt: "Flower Power" bei Pavianen (14.4.04)
 
 
 
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01.01.2010