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Kontroverse um erstes "Ethno-Medikament"  
  Erstmals in der Geschichte der Medizin könnte in den USA ein Medikament zugelassen werden, das für eine ethnische Gruppe maßgeschneidert wurde. Das Präparat "BiDil" soll vor allem bei herzkranken Afroamerikanern zur Anwendung gelangen. Eine Studie der Pharmafirma NitroMed legt nämlich nahe, dass vor allem Menschen dieser ethnischen Herkunft von dem neuen Medikament profitieren.  
Die für 2005 anberaumte Zulassung des Präparats sorgt indes nicht nur für Zustimmung. Kritiker wenden ein, dass ethnische Zuordnungen als medizinische Parameter zu ungenau seien und auch gesellschaftliche Probleme nach sich zögen. Ein Bioethiker wirft NitroMed zudem vor, man habe in der Bewerbung des Medikaments bewusst falsche Statistiken veröffentlicht.
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Einen aktuellen Überblick zum Thema BiDil als Ethno-Medikament liefert der Aufsatz "How a Drug Becomes 'Ethnic': Law, Commerce, and the Production of Racial Categories in Medicine" von Jonathan Kahn, erschienen im "Yale Journal of Health Policy, Law & Ethics" (Ausgabe Winter 2004, Band 4, S.1-46).
->   Zum Originalartikel (pdf-Datei; University of Dayton)
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Erste Studie mit mäßigen Ergebnissen
Bereits in den 1980er Jahren testete die Pharmafirma NitroMed ihr neues Produkt BiDil, von dem man sich eine Verbesserung des Gesundheitszustandes von Herzinfarktpatienten versprach.

Die Resultate waren zunächst äußerst mäßig, die Daten schienen jedoch auf einen Unterschied zwischen weißen und schwarzen Patienten hinzudeuten.

Aus diesem Grund entschied man sich im Jahr 2001 eine weitere klinische Studie zu starten, diesmal allerdings mit ausschließlich afroamerikanischen Patienten.
->   Mehr zu BiDil (www.nitromed.com)
Folgestudie: Afroamerikaner profitieren von Herzmedikament
Am 19. Juli dieses Jahres trat NitroMed mit einer Presseaussendung an die Öffentlichkeit, in der man den Abbruch der klinischen Phase-III-Studie mitteilte.

Und zwar deswegen, weil die Daten bereits zu einem frühen Zeitpunkt signifikant erhöhte Überlebensraten der behandelten Herzinfarktpatienten ergeben hätten. Der verfrühte Abschluss der so genannten A-HeFT-Studie sei in Abstimmung mit einem unabhängigen Aufsichtskomitee erfolgt.
->   Nitromed Stops Heart Failure Study in African Americans
Zulassung bis 2005 möglich
Da die US-amerikanische Nahrungs- und Arzneimittelaufsicht FDA bereits im Jahr 2001 - im Fall positiver Studienergebnisse - eine Zulassung des Medikaments in Aussicht stellte, plant NitroMed nun das Präparat im Jahr 2005 auf den Markt zu bringen. Ein Plan, der nicht nur auf Zustimmung stößt.
Problematisch: Rassenbegriff in klinischer Praxis
Als heikel wird von Fachleuten etwa empfunden, dass mit diesem "Ethno-Medikament" nun der belastete Rassenbegriff Einzug in die Krankengeschichten hält.

Da das Präparat - wie die klinischen Studienergebnisse nahe legen - vor allem bei Afroamerikanern, nicht aber bei weißen Patienten wirkt, müssten nun Ärzte bei der klinischen Beurteilung auch eine ethnische Klassifikation vornehmen.

"Das ist wirklich problematisch", betont die Anthropologin Sandra Soo-Jin Lee, von der Stanford University gegenüber dem Onlinedienst der Fachzeitschrift "Nature".
Fachliche Kritik an ethnischer Klassifikation
Kritik gibt es auch aus naturwissenschaftlicher Sicht: Die Wirkung von BiDil beruht im Wesentlichen auf der Freisetzung von Stickstoffmonoxid (NO), das zur Entspannung der Blutgefäße und damit zu einer Entlastung des Herzens führen soll.

Die Studienleiterin von NitroMed, Anne Taylor, vermutet, dass Afroamerikaner einen niedrigeren NO-Gehalt im Blut aufweisen und deswegen von dem Präparat eher profitieren.

Eine Feststellung, die Fachkollegen zu spekulativ wie auch zu ungenau ist: "Ich glaube nach wie vor, dass die Pigmentierung der Haut ein ziemlich schlechtes Vorhersageinstrument der Herzfunktion ist", bringt Howard McLeod von der Washington University in St. Louis die fachliche Skepsis auf den Punkt.
->   Mehr zu den biologischen Funktionen von NO
Exaktere Alternative: Gene statt Ethnien
McLeod argumentiert, dass man - anstatt medizinisch unscharfe ethnische Zuordnungen vorzunehmen - besser die genetischen Faktoren eruieren solle, die den unterschiedlichen körperlichen Reaktionen zugrunde liegen.

Und diese würden vermutlich auch bei Patienten europäischer oder asiatischer Herkunft vorhanden sein, wenn auch vermutlich in geringerer Häufigkeit.

Diese Argumentation wird auch durch eine Studie gestützt, die britische Forscher im Jahr 2001 publiziert haben. Darin wiesen sie nach, dass unterschiedliche Reaktionen auf Medikamente gut durch spezifische genetische Marker vorhergesagt werden können, nicht jedoch durch ethnische Klassifikationen.
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Die Studie "Population genetic structure of variable drug response" von James F. Wilson et al. erschien in der Fachzeitschrift "Nature Genetics" (Band 29, S. 265-9; doi:10.1038/ng761).
->   Zum Original-Abstract
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Vorwurf: Falsche Statistiken veröffentlicht
Gegenüber "Nature Science Update" erklärte Taylor zwar, diese Erbfaktoren in Zukunft aufspüren zu wollen, rückt aber von der bisherigen Vorgehensweise nicht ab: "Wir haben die Trumpfkarte: Es funktioniert einfach."

Dass im Umfeld der A-HeFT-Studie nicht nur mit Atout sondern bisweilen auch mit gezinkten Karten gespielt wurde, betont der Bioethiker Jonathan Kahn von der University of Minnesota. Er weist auf Aussendungen von NitroMed zu diesem sensiblen Thema hin, in denen behauptet wurde, dass Afroamerikaner zweimal häufiger als Weiße an Herzinfarkt sterben.

Seine Kritik: Die aktuellsten Statistiken weisen lediglich auf eine zehnprozentige Erhöhung der Todesraten hin. Der behauptete Zahlenwert nütze vielleicht der Vermarktung des Produkts, medizinisch untermauert sei er jedenfalls nicht. Darauf scheint NitroMed reagiert zu haben. Auf der Firmenwebsite spricht man nur noch von "erhöhten Mortalitätsraten".

Robert Czepel, science.ORF.at
->   NitroMed
->   Nature Science Update
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at
->   Traum vom Ende der Rassentrennung in weiter Ferne (8.4.04)
->   Kann die Wahrnehmung von "Rasse" verschwinden? (21.8.02)
->   Ethno-Genetik zwischen Hoffnung und Missbrauch (16.4.02)
 
 
 
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01.01.2010