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Was Nervenzellen so flexibel macht  
  Das menschliche Gehirn verfügt über eine Reaktionsfähigkeit, die es uns möglich macht, auf wechselnde Umstände extrem schnell zu reagieren. Für solche abrupten Verhaltensänderungen sind die Nervenzell-Schaltkreise des Gehirns mit der Fähigkeit zur so genannten "Kurzzeitplastizität" ausgestattet: Die molekularen Mechanismen, die die Neuronen zu solch flexiblen Anpassungskünstlern machen, haben nun deutsche Forscher entschlüsselt.  
Die Wissenschaftler um Nils Brose und Christian Rosenmund von den beiden Göttinger Max-Planck-Instituten für experimentelle Medizin und biophysikalische Chemie sehen darin einen möglichen Ansatz zur medikamentösen Beeinflussung der Hirnleistung. Ihre Ergebnisse sind im Fachmagazin "Cell" erschienen.
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Der Artikel von Brose, Rosenmund und Kollegen ist unter dem Titel "Calmodulin and Munc13 form a Ca2+-sensor/effector complex that controls short-term synaptic plasticity" im Fachmagazin "Cell", Bd. 118, Seiten 389-401, Ausgabe vom 6. August 2004 erschienen.
->   Abstract der Studie in Cell"
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Warum das Gehirn plastisch sein muss
Im menschlichen Gehirn sind Milliarden von Nervenzellen aktiv. Deren Verbindungen untereinander sind alles andere als starr. Denn unser Gehirn zeichnet sich vor allem durch seine "Plastizität" aus - es kann sich fortlaufend verändern, neue Verschaltungen zwischen Neuronen schaffen oder alte abbauen. Das kann mitunter lebensnotwendig sein.
Abrupte Reaktion dank "Kurzzeitplastizität"
Ob man einem anfliegenden Schneeball ausweicht, schnell ein hupendes Auto lokalisiert oder beim Zappen zwischen Fußball und Krimi nicht völlig den Überblick verliert - dafür steht die "Kurzzeitplastizität" der Nervenzellen im Gehirn:

Der Mensch kann - auf Grund von Sinneseindrücken oder als Ergebnis gedanklicher Prozesse - sein Verhalten abrupt ändern, weil seine Hirnneuronen sehr reaktionsfähig sind. Die zugrunde liegenden molekularen Mechanismen haben die Max-Planck-Forscher nun im Detail untersucht.
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Hintergrund: Wie Nervenzellen kommunizieren
Nervenzellen kommunizieren miteinander an spezialisierten Zell-Zell-Kontakten, den Synapsen. Zuerst wird eine sendende Nervenzelle erregt und schüttet Botenstoffe, so genannte Neurotransmitter, aus. Diese Signalmoleküle gelangen dann zur nächsten Empfängerzelle und beeinflussen deren Aktivitätszustand. Hauptakteure der Transmitterausschüttung sind synaptische Vesikel, kleine Membran-umhüllte Bläschen, die mit Neurotransmittern beladen sind und diese durch Verschmelzung mit der Zellmembran freisetzen.
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Schnelle Reaktion dank "Vorratshaltung"
Um jederzeit und schnell in der Lage zu sein, auf eine Stimulation mit der Freisetzung von Botenstoffen zu antworten, muss eine Nervenzelle in jedem ihrer synaptischen Enden eine bestimmte Menge "akut freisetzbarer" so genannter Vesikel bereithalten, die jene Neurotransmitter abgeben.

Im Grunde also bedienen sich die Neuronen einer Art "Vorratshaltung", um möglichst schnell reagieren zu können.
Je größer der Vorrat, desto zuverlässiger
Dabei entscheidet die Zahl jener akut freisetzbaren Vesikel einer Synapse über deren Zuverlässigkeit. "Gibt es zu wenige davon und werden diese zudem noch zu langsam nachgeliefert, ermüdet die entsprechende Synapse bei dauerhafter Belastung sehr schnell", erläutert Nils Brose.

Das Gegenteil ist der Fall, wenn eine Synapse bei Belastung schnell weitere akut freisetzbare Vesikel nachliefern kann. Dann könne es sogar passieren, dass eine Synapse bei dauerhafter Aktivierung besser werde, so der Neurobiologe
Protein "Munc13" entscheidend
Brose und Rosenmund hatten bereits vor einigen Jahren ein Protein mit dem Namen Munc13 entdeckt, das für die Nachlieferung "akut freisetzbarer" Vesikel an Synapsen unabdingbar ist.
Vesikel-Nachschub wird Bedarf angespasst
 
Bild: Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin

Im Bild: Mausnervenzelle in Kultur. Die rosa gefärbten Bereiche sind Synapsen, in denen Munc13-Proteine angereichert sind.

Ihre nun in "Cell" veröffentlichten Daten demonstrieren, dass dieses Protein durch die Aktivität von Nervenzellen so reguliert wird, dass der Nachschub an Vesikeln dem jeweiligen Bedarf angepasst werden kann:

Ist die Zelle sehr aktiv, werden durch Munc13 viele neue freisetzbare Vesikel nachgeliefert. Ist sie still, wird auch die Aktivität des Proteins herunterreguliert. Munc13-Proteine haben also eine Schlüsselfunktion bei der Kurzzeitplastizität.
Molekularer Mechanismus entschlüsselt
Die Forscher haben zudem den molekularen Mechanismus entschlüsselt, mit dem das alles geschieht:

Als die Hirnforscher mit ihren Arbeiten begannen, war über die Kurzzeitplastizität lediglich bekannt, dass die anhaltende Aktivität von Nervenzellen zur Anhäufung von Kalzium-Ionen im Zellinneren führt und diese dann auf unbekannte Weise die Transmitter-Freisetzungsrate erhöhen.
Signalprotein plus Kalzium-Ionen entscheidend
Man wusste aber nicht, wie genau die Kalzium-Ionen das bewerkstelligen: Die Studien der Göttinger Forscher zeigen nun, dass die sich während starker Nervenzellaktivität anhäufenden Kalzium-Ionen an ein Signalprotein namens Calmodulin anlagern. Der auf diese Weise entstandene Komplex aus Kalzium-Ionen und Calmodulin bindet und aktiviert dann Munc13.

"Wir glauben, dass wir den molekularen Schlüsselmechanismus der Kurzzeitplastizität entdeckt haben", erklärt Christian Rosenmund. Wenn die Forscher mit der Interpretation ihrer Befunde recht haben, dann wäre Munc13 ein pharmakologisches Ziel für die medikamentöse Beeinflussung der Gehirnleistung.
->   Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin
->   Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie
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01.01.2010