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ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Zwischen "normal" und "abweichend"  
  Ohne gemeinsame Werte existiert keine Gesellschaft: In unseren Breitengraden verschwimmen aber die Unterschiede zwischen "normalem" und "abweichendem" Verhalten zunehmend. Den Fragen nach "Werten, Normen und Devianz" geht der Soziologe Manfred Prisching beim Europäischen Forum Alpbach im August nach - sowie vorab in einem Gastbeitrag für science.ORF.at.  
Werte, Normen, Devianz
Von Manfred Prisching

Grenzen des zulässigen Verhaltens - das waren immer klassische Fragen der Sozialwissenschaften: Was hält eine Gesellschaft zusammen? Brauchen die Menschen gemeinsame Werte? Was macht man mit jenen, die sich anders verhalten?

Und diese Fragen haben ihre aktuellen Facetten: Leben wir in einer Gesellschaft, in der die Werte verfallen? Wie verhalten wir uns zur steigenden Kriminalität? Kann man Gewalttaten nicht verhindern?
Einschätzungen ändern sich
Beides gehört offenbar zur modernen Gesellschaft: auf der einen Seite das Konforme, Mehrheitsfähige, Integrative, Anständige, Gute, Werthafte; auf der anderen Seite das Ausgefallene, Unanständige, Exaltierte, Böse, Strafbare.

Die Einschätzungen, was zur einen oder zur anderen Kategorie gehört, ändern sich: Vor gar nicht so langer Zeit ist es noch mit Befremden registriert worden, wenn unverheiratete Paare einen gemeinsamen Wohnsitz hatten. Künstlerische Objekte, die heute im Nachmittagsprogramm des Fernsehens keinen Anstoß mehr erregen, hat man wegen Anstandsverletzungen verfolgt. Erziehungsziele haben sich in den letzten Jahrzehnten wesentlich verändert: von Gehorsam in Richtung Selbstständigkeit.

Derartige Änderungen reichen auch in den rechtlichen Bereich: Vor wenigen Jahren ist Homosexualität noch verfolgt worden, während man über Grapschereien bei Frauen Schulter zuckend hinweg gegangen ist. Ein Delikt wie eine Vergewaltigung bei aufrechter Ehe wäre vor etlichen Jahren undenkbar gewesen.
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Seminar beim Europäischen Forum in Alpbach
Manfred Prisching von der Universität Graz leitet beim Europäischen Forum Alpbach 2004 gemeinsam mit Michael Bock von der Universität Mainz das Seminar "Werte, Normen, Devianz" (20.-26.8.2004). science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.
->   Europäisches Forum Alpbach
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"Abweichungen" in Abstufungen
Bei den "Abweichungen" gibt es natürlich Abstufungen: Verhaltensweisen, die nur ein wenig anders sind, also Indignation erregen; die als akzeptabel, wenn auch fragwürdig angesehen werden; solche, die abgelehnt werden, die als unanständig gelten; solche, die als abartig oder strafwürdig gelten - denken wir an Judenwitze, an sexistische Bemerkungen, an das Absingen nationalsozialistischer Lieder, an Prügeleien zwischen Jugendlichen, an Diskrimination, an Unhöflichkeiten.
Gesellschaftliche Entwicklungen
Die Kategorien verschieben sich, allerdings nicht zufällig, sondern als Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen: Die Bewertung von Ehescheidung und Prostitution hat sich in den letzten dreißig Jahren gewandelt, die Einschätzung von Ehebruch und Wirtschaftskriminalität, von Karrierestreben und Lebensbiographie, von Gesundheit und Körper, und vieles andere. Grenzen werden überschritten, beschworen, kritisiert, verfestigt, neu errichtet und verschoben.
Widersprüchliches zwischen Konformität ...
Der integrative Aspekt der Gesellschaft hat allerdings seine Widersprüchlichkeiten, gerade wenn man aktuelle Zeitdiagnosen betrachtet. Denn diese stellen die Pluralisierung der Welt heraus, also die Vielfalt, Buntheit, ja Beliebigkeit von Lebensstilen und Verhaltensmustern:

Was aber heißt Wertegemeinsamkeit, was sind "soziale Normen" unter diesen Bedingungen?
... und Devianz
Ja noch mehr: "Individualität" wird auch als Anspruch an den Einzelnen gerichtet - er hat seine ureigene, autonome Persönlichkeit zu entfalten, ganz anders als die anderen; er hat sein "Marketing-Ich", seine marktgerechte Unverwechselbarkeit, zur Schau zu tragen, wenn er erfolgreich sein will:

Was aber heißt dann Konformität oder Devianz? Ist es deviant, konform zu sein, weil man dann ja nicht "individuell" oder "authentisch" ist: Ist man "deviant", wenn man drei Jahrzehnte mit derselben Frau verheiratet ist? Ist man ein für die moderne Wirtschaft lebensuntüchtiger Konformist, wenn man eine "normale" Biographie hat? Was ist "abweichend", wenn jedem angesonnen wird, im Zuge der Stilisierung seiner Individualität irgendwie "abweichend" zu sein? Abweichend wovon?
Flexibilität: Normal oder nicht?
Die aktuelle Entwicklung lässt sich somit auf Konformitäts- und Devianzförderlichkeit befragen. Wie steht es beispielsweise mit einem Arbeitsverhältnis, das - unter dem Titel moderner Flexibilisierung - durchwegs von biographischen Brüchen gekennzeichnet ist, die in früheren Zeiten als devianzerklärende Ereignisse gegolten haben?

Wie steht es mit der Sichtweise auf eine Partnerbeziehung, die mit Kategorien von "Heiratsmarkt" und "Beziehungsmanagement" apostrophiert wird? Werden dadurch "Wirklichkeiten" geschaffen, in denen das, was früher "normal" war, nunmehr als "deviant" erscheint, und umgekehrt?
Kriminelles Verhalten
Wenn wir uns jene Verhaltensweisen näher besehen, die als "kriminell" zu bezeichnen sind, so steht natürlich ein Repertoire von Devianztheorien zur Erklärung dieser Phänomene zur Verfügung. Was treibt Menschen in jenen Bereich, der - trotz aller Toleranz oder Indifferenz - als im Rechtssinne "abweichend" (gesetzesbrechend) bezeichnet werden muss?

Schließlich gibt es in jeder Gesellschaft Taten, die kulturübergreifend als "Grenzüberschreitungen" geächtet werden: Mord und Totschlag, Betrug und Diebstahl, Körperverletzung und Hehlerei.

Allgemeine Gründe für Kriminalität lassen sich namhaft machen; viel schwieriger aber ist die Einzelfallprognostik. Lassen sich Aussagen, am Ende gar Vorhersagen, über individuell anomisches Verhalten machen?
Offene Fragen
Natürlich ist dies die Alltagspraxis in Gerichten und Vollzugsbehörden, die ohne solche Prognosen nicht auskommen. Wie aber lassen sich - unter den Bedingungen der Gegenwartsgesellschaft - solche Prognosen erstellen?

Sie müssen wohl an kollektiven Mustern orientiert sein; aber gerade diese stehen in Spannung zu den turbulenten Bedingungen einer "flüchtigen Gesellschaft".

Wie lassen sich im Bereich einer angewandten Kriminologie unter Verwendung von entsprechenden Typisierungen Fallbeurteilungen und Fallprognosen erstellen? Können wir anderen Menschen in ihre Köpfe sehen?
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Über den Autor
Univ. Prof. Mag. Dr. Manfred Prisching: Geboren am 12.12.1950 in Bruck/Mur, Studium der Rechtswissenschaften (Dr. jur. 1974) und der Volkswirtschaftslehre (Mag. rer. soc. oec. 1977), Universitätsassistent an den Instituten für Rechtsphilosophie, für Volkswirtschaftslehre und Volkswirtschaftspolitik und für Soziologie. Habilitation für Soziologie 1985. 1987/88 an der Rijksuniversiteit Limburg (Maastricht, NL). Gastprofessor an den Universitäten Salzburg, Innsbruck und Linz. 1994 tit.a.o. Univ.Prof. 1995/96 Schumpeter-Gastprofessur an der Harvard University (Cambridge/Boston). 1997-2001 wissenschaftlicher Leiter der Technikum Joanneum GmbH (steirische Fachhochschulen). Korr. Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
->   Institut für Soziologie, Uni Graz
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01.01.2010