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Grenzüberschreitungen in der Musik  
  Es liegt im Wesen der Kunst, elementare Fragen zu stellen und Grenzen auszuloten - vielfach auch zu überschreiten. Dem Thema der Grenzüberschreitungen in der Musik geht der Rektor der Kunstuniversität Linz, Reinhard Kannonier, im August beim Europäischen Forum Alpbach nach. In einem Gastbeitrag für science.ORF.at erläutert er vorab das Beispiel der europäischen Musikgeschichte.  
Grenzüberschreitungen
Von Reinhard Kannonier

Es liegt im Wesen aller bedeutenden historischen wie gegenwärtigen Kunst, Grenzen auszuloten und vielfach auch zu überschreiten.

Denn die Kunst stellt elementare Fragen an unser Leben und unser Verhalten, taucht zuweilen ins Unterbewusste ab und stößt dort auf Tabus, blickt über die jeweils eigenen Metiers hinaus, um neue Anregungen zu erhalten.
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Seminar beim Europäischen Forum in Alpbach
Reinhard Kannonier, Rektor der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung in Linz leitet beim Europäischen Forum Alpbach 2004 gemeinsam mit Derek Weber von der "Neuen Zürcher Zeitung" ein Seminar zum Thema "Musik" (20.-25.8.04). science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.
->   Europäisches Forum Alpbach
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Grenzüberschreitungen für neue Wege
Nur mittels versuchter Grenzüberschreitungen ist es auch möglich, innerhalb der Kunstregeln selbst neue Wege aufzutun.

Es können dies stilistische Grenzen sein, Grenzen in den emotionalen und/oder intellektuellen Beziehungen zwischen Kunstwerken und deren Konsumenten, Grenzen zwischen einzelnen traditionellen Kunstsparten und vieles mehr.
Spannungsfelder für kreative Ideen
Die Spannungsfelder jedenfalls, die an solchen Schnittstellen entstehen, waren und sind der Humus, aus dem kreative Ideen, neue Techniken oder überraschende neue Kombinationsmöglichkeiten sprießen.
Beispiel europäische Musikgeschichte
Am Beispiel der europäischen Musikgeschichte lassen sich beispielhaft einige solcher spannenden Entwicklungen zeigen. Gemeint sind damit weniger die derzeit so boomenden Cross-over-Projekte, Weltmusik-Festivals und dergleichen mehr.

Diese sind in der Regel eher auf der Suche nach neuen Publikumsschichten und Finanzierungschancen denn auf neuen künstlerischen Wegen - oft sind sie nur sehr kurzfristig erfolgreich oder überhaupt vom Start weg zum Scheitern verurteilt.
Kreuzungspunkte, existenzielle Fragen
Nein, es geht vielmehr um jene Kreuzungspunkte, an denen sich unvermittelte, vorher nicht gesehene Perspektiven auftun; an denen neue künstlerische, aber auch neue Beziehungen zwischen der Kunst und ihrem Publikum entstehen; an denen sich im wahrsten Sinne des Wortes epochale, existenzielle Fragen stellen.
Die Ära von Carlo Gesualdo
In der Ära von Carlo Gesualdo (1560-1613) etwa, dem großartigen Komponisten von Madrigalen, dem Politiker, Mörder und letztlich dem Wahnsinn Verfallenen: eine Story von Sex, Crime, Politik und kühnen Harmonien, die mehr über damalige Lebensverhältnisse und uns "zeitlos" berührende Fragen aussagen kann als so manch hochwissenschaftliche Abhandlung.
Mozart-Opern als eigener Kosmos
Oder: Was steckt nicht alles in den berühmten Mozart-Opern, zu denen Lorenzo da Ponte die Libretti geschrieben hat, insbesondere im Don Giovanni. Ein ganzer Kosmos an privaten und öffentlichen Beziehungskisten, Eros, Ethos und Thanatos, und nicht zuletzt ein einmaliges seismografisches musikalisches Genie.
Beginn der Moderne als Zäsur
Eine wahrhaft einschneidende Zäsur für die gesamte Kunstgeschichte stellte ohne Zweifel der Beginn der Moderne vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis rund um den Ersten Weltkrieg dar.

Es ist unglaublich spannend, den Querverbindungen von gesellschaftlichen und musikalischen Entwicklungen jener Zeit nachzuspüren, die weit reichenden Verunsicherungen nach dem Auflösen Jahrhunderte alter Kunstregeln wie der Tonalität oder der Perspektive zu beobachten, oder die Frage zu stellen, warum seither die zeitgenössische Kunst Vermittlungsprobleme mit dem Publikum hat:

"Das soll Musik/Kunst sein?!", ist ein empörter Ausruf, der in den letzten hundert Jahren ziemlich häufig zu hören war. Warum hat die Musik ihre "Schönheit" verloren?
Musikalische Grenzüberschreitungen heute?
Schließlich ein Sprung in die Gegenwart. Alle musikalischen Varianten und Experimente scheinen ausgereizt zu sein, die Unterscheidung zwischen E- und U-Musik ist für viele obsolet geworden, interdisziplinäre Projekte sind an der Tagesordnung.

Worin also könnten zeitgenössische Grenzüberschreitungen überhaupt noch bestehen? Zweifellos stellen die neuen Medien eine Herausforderung an die Musikproduktion generell dar; aber auch Begegnungen mit "alten" Medien wie Film oder Video können noch für jede Menge Überraschungen sorgen.

Es sind also genügend Stoffe vorhanden, mit und aus denen die Musikgeschichte fortgeschrieben werden wird.
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Informationen zum Autor: Reinhard Kannonier
Reinhard Kannonier ist Rektor der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung in Linz. Studien: Germanistik, Philosophie und Musikwissenschaft (Lehramt) an der Universität Graz; Politische Wissenschaft, Geschichte, Publizistik und Kommunikationstheorie an der Universität Salzburg.

Forschungsschwerpunkte u.a.: Allgemeine europäische Kulturgeschichte der Neuzeit; Geschichte der europäischen Kunstmusik in ihren sozialen, politischen und kulturellen Kontexten; Kulturelle Paradigmenwandel im Kontext ökonomischer und infrastruktureller Modernisierungstendenzen; Kunst, Kultur und Moderne
->   Biographie Reinhard Kannonier (Uni Linz)
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Mehr vom Forum Alpbach 2004 in science.ORF.at:
->   Manfred Prisching: Werte, Normen, Devianz (5.8.04)
 
 
 
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01.01.2010