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Das Geheimnis des aufrechten Gangs  
  Warum sich unsere Vorfahren vor Millionen Jahren für den "aufrechten Gang" entschieden haben, ist unter Anthropologen umstritten. Für den Humanbiologen Carsten Niemitz von der Freien Universität Berlin hat das viel mit Wasser zu tun - Uferzonen sind ihm zufolge das ideale Terrain nicht nur zum Aufstehen, sondern auch zum Stehen bleiben. Mit einer Rezension seines neuen Buches in science.ORF.at konnte sich Niemitz nicht anfreunden und verteidigt nun in einem Gastkommentar seine Thesen.  
Antwort auf eine Buchrezension
Von Carsten Niemitz

Da hat doch glatt ein unleugbar "deutscher Professor" eine neue These "ins paläoanthropologische Rätselraten geworfen". Der Rezensent meines Buches belegt aber mit keinem Argument, was denn an meinem Buch oder an meiner Person so deutsch sei. Ich hatte gedacht, die Zeiten für solche (um es nett zu sagen) anachronistische Gedankenlosigkeiten seien lange vorbei ... Der Text verdient eine heftige Gegendarstellung.
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science.ORF.at veröffentlichte unter dem Titel "Waten im Wasser führte zum aufrechten Gang" am 3.8.04 eine Rezension des Buches "Das Geheimnis des aufrechten Gangs. Unsere Evolution verlief anders" von Carsten Niemitz.
->   Zur Rezension
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Keine schlüssige Erklärung bisher
Die neue Theorie geht davon aus, dass alle bisherigen Hypothesen für die Evolution des aufrecht zweifüßigen Gangs keine Erklärung dafür haben, warum die ersten unsichereren, kräftezehrenden, langsamen Wackelschritte unserer Ahnen gegen alle Logik so viele Generationen lang fortgesetzt worden sind, bis sich eine Optimierung anatomisch einstellen konnte.

Zu erwarten wäre doch, dass sie sich schnell wieder auf die flinken und sicheren vier Beine begeben hätten, wie dies z.B. bei Pavianen und Makaken der Fall ist.
Nicht nur aufgestanden, sondern stehen geblieben
Das Buch legt nun in einer breit angelegten, transdisziplinären Argumentation die Basis für die Theorie, warum unsere Vorfahren nicht nur aufgestanden, sondern warum sie stehen geblieben sind. Ich lege dar, warum sich dies wohl in Uferzonen, respektive im Flachwasser abgespielt hat. Dies ist sicher eine ungewohnte, und neue Denkweise. Sie hat übrigens mit der so genannten "Aquatischen Affentheorie" rein gar nicht zu tun.
Enge ökologische Beziehung der Primaten zum Wasser
Nach ausführlichen Argumenten der funktionellen Anatomie referiere ich in der Tat eine Fülle von Dokumenten, welche die ökologischen Beziehungen von Affen und Menschenaffen zum Wasser darlegen und beschreibe, welche Selektionswerte dies hat.

Anschließend zeige ich, dass in der Fossilgeschichte der Tierprimaten bis zur gesamten Menschheitsgeschichte lückenlos eine enge ökologische Abhängigkeit zum Wasser bestand, weit über die Notwendigkeit des Trinkwassers hinaus.

Auf alle diese Dinge bezieht sich die Rezension, sie erkennt die Fülle der Belege auch an, aber nur, um sie als "Belegwut" zu denunzieren. Gründlichkeit und Lückenlosigkeit, die sonst sicherlich angemahnt worden wären, werden als pathologisch diffamiert.
Viskosität des Wassers als Argument
Proteinreiche Kost, so die Rezension "....könnte unsere ... Vorfahren in seichte Uferzonen gelockt und dort zu bipedem Gang animiert haben - zumal man mit dem Wasser als 'Stütze' nicht so leicht umfällt." Die Rezension will hier klar machen, ich hätte unglaublich einfältiges, dummes Zeug geschrieben.

Dies ist so absichtlich aus dem Zusammenhang gerissen, dass kein Leser die seriöse Begründung ahnen kann: Ganz am Ende des Buches leite ich sorgsam her, dass außer vielen anderen Argumenten auch die Zähflüssigkeit des Wassers zu berücksichtigen ist. Einem noch ungeschickt aufrecht auf zwei Beinen gehenden Ahnen kam nämlich sicher entgegen, wenn er bei natürlich noch unsicheren Schritten nicht sofort durch einen Sturz bestraft wird.

Die Viskosität des Mediums wird auch in der Rehabilitation genutzt, z.B. bei Schlaganfallpatienten, die im Wasser wegen des Auftriebs und der Viskosität sicherer und leichter gehen können. Dies wird im Buch präzis ausgeführt.
Proteinreiche Kost
Hinsichtlich der proteinreichen Kost gehe ich an anderer Stelle in meinem Buch auch auf physiologischen Daten ein; u.a. referiere ich neue Ergebnisse amerikanischer Forscher, insbesondere im Bereich der Hirnforschung und auf zitiere neueste Daten der FAO- was unerwähnt bleibt.
Unterschied von Ethologie und Soziologie
Meine angebliche Belegwut "macht aber auch vor der Gegenwart nicht Halt". Völlig richtig! Fossilfunde und archäologisches Beweismaterial allein genügen nämlich nicht; sie müssen durch stimmige Belege in der Gegenwart ergänzt werden, um zu überzeugen.

"Beleg wird an Beleg gereiht, alles passt zusammen" findet der Rezensent und kennzeichnet die Belege dann als "beliebig" und deshalb als nicht überzeugend. Als irrige Meinungsäußerung würde ich das akzeptieren, hätte der Autor unsere humanethologischen Forschungen nicht "quasi als Freizeitsoziologie" bezeichnet.

Der Rezensent kennt offenbar den Unterschied zwischen Ethologie und Soziologie nicht (und dies, obwohl er nur hätte genauer lesen brauchen). Es gibt noch viele weitere Fehler in dem Text, auf die sich jedoch hier nicht einzugehen lohnt.
"Die Zeit": "Erfrischend unkonventionell"
Die Beschimpfung: "Primatologe, bleib bei Deinen Affen!" möchte ich nicht kommentieren. Dies gilt vor allem auch, so lange mich beispielsweise "Die Zeit" in einer Rezension eines nicht primatologischen Buches als "angesehenen Sachbuchautor" und dieses Buch als "erfrischend unkonventionell" und "wissenschaftlich solide" bezeichnet.
Berücksichtigung zahlreicher Forschungen
Außer humanethologischer Forschung über die Beziehung des Menschen zum Wasser habe ich eine psychologische Befragung durchgeführt, beziehe mich auf empirische Ergebnisse zur Psychologie der Werbung, ferner auf die renommierten Forschungen von Jonathan Kingdon (The self-made man... ) in einer großen Anzahl von Ethnien (z.B. den Onge, Adamanen-Inseln), auf die hervorragende Kulturanthropologie der Neandertaler von Mary Stiner und berücksichtige die Forschungen von Bowler und Kollegen in Australien und vieles Andere mehr.

Die Rezension aber wirft mir "naturwissenschaftliche Blindheit gegenüber kulturellen Phänomenen" vor, eine weitere Behauptung, die ebenfalls durch keine Belege gedeckt wird.

Mit all den transkulturellen Beobachtungen komme ich zum Schluss, dass das Wasser die Natur des Menschen aufgrund seiner langen Geschichte viel tiefgreifender bestimmt als zumeist wahrgenommen.
Eine andere Stimme
Um eine andere Stimme aus Wien zu zitieren: Prof. Günter Koch, der Präsident der IT-Forschungsgesellschaft Österreich schreibt, es sei herausragend und verdienstvoll, dass dieses Buch "mit seiner methodisch sauberen Beweisführung ... den hohen Anspruch guter Wissenschaftsarbeit vor Augen führt", was selbst dann gelte, wenn die Theorie vielleicht eines Tages widerlegt werden sollte. Wer sich ein Bild machen möchte, möge das Buch lesen.
->   Institut für Biologie, FU Berlin
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Das Buch
Carsten Niemitz: Das Geheimnis des aufrechten Gangs. Unsere Evolution verlief anders. München 2004 (Beck). 256 S., Euro 23,60
->   Mehr über das Buch (Beck-Verlag)
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->   Zufallsfund ändert Theorie des aufrechten Ganges (5.6.03)
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01.01.2010