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Leben ohne Zahlen: Wie Sprache das Denken formt  
  Es ist eine alte und umstrittene Frage der Linguistik: Determiniert die Sprache unser Denken? Bislang konnte dafür kein echter Nachweis erbracht werden. Doch nun hat ein US-Verhaltensforscher - unterstützt von zwei Linguisten - die Sprache eines Eingeborenenstammes im Amazonas-Regenwald untersucht. Die Piraha kennen kein echtes numerisches System, es existieren lediglich Begriffe, die in etwa "eins", "zwei" und "viele" bedeuten. Die Folge laut der nun publizierten Studie: Für größere Mengen fehlt den Piraha offenbar das Bewusstsein.  
Über das Zählsystem der Piraha und dessen Auswirkungen auf ihre Wahrnehmung berichtet der Biologe und Verhaltensforscher Peter Gordon in einem Bericht, der im Fachmagazin "Science" erscheint.

Gemeinsam mit den Linguisten Daniel und Keren Everett, die sich seit zwanzig Jahren mit den Piraha befassen und mit Sprache und Kultur des Volkes völlig vertraut sind, besuchte er wiederholt den äußerst abgeschieden lebenden Stamm.
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Die Studie von Peter Gordon ist am 19. August 2004 unter dem Titel "Numerical Cognition Without Words: Evidence from Amazonia" als Online-Vorabpublikation in "Sciencepress" erschienen (doi:10.1126/science.1094492). Sie wird in einer der kommenden Print-Ausgaben des Fachmagazins publiziert.
->   Die Studie im Volltext (kostenpflichtig)
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Grenzen der Sprache, Grenzen der Welt
Ludwig Wittgenstein hat es pointiert formuliert: "Die Grenzen unserer Sprache sind die Grenzen unserer Welt."

Für die Linguistik hat der Autodidakt Benjamin Lee Whorf in den späten 1930er Jahren die Problematik in Worte gefasst. Seine These: Sprache determiniert Beschaffenheit und Inhalt unseres Denkens und formt somit unsere Weltsicht und Wahrnehmung der Realität.
Die umstrittene Sapir-Whorf-Hypothese
Anders formuliert würde dies bedeuten, dass bestimmte Gedanken oder Begriffe, die in einer Sprache existieren, einem Menschen mit anderer Muttersprache möglicherweise verschlossen bleiben, weil die entsprechenden Begriffe ganz einfach nicht existieren.

Dieser später als (Sapir-)Whorf-Hypothese bekannte Ansatz war allerdings sehr schnell heftig umstritten. In abgeschwächter Form lautet der Ansatz derzeit etwa: Die linguistische Struktur einer Sprache kann die Art und Weise, in der ihre Sprecher denken, beeinflussen.
->   Die Sapir-Whorf-Hypothese (wikipedia.org)
Bislang gibt es keinen Nachweis
Wie Peter Gordon nun in "Science" berichtet, gibt es eine Reihe jüngerer Studien, die sich des Themas angenommen haben. Keine davon komme zu dem Schluss, dass die linguistische Struktur einer Sprache das Verständnis von Konzepten aus einer anderen Sprache unmöglich machen könnte.
"Linguistischer Determinismus" im Blickpunkt
Der Wissenschaftler hat sich nun des "linguistischen Determinismus" - also Whorfs ursprünglicher Hypothese, angenommen. Für Gordon lässt sich die dadurch aufgeworfene Frage in zwei Bereiche unterteilen:

Können Sprachen tatsächlich "unvereinbar" sein, weil die entsprechenden Worte völlig fehlen? Und - falls dies zutrifft: Wird der Sprecher einer Sprache durch ein solches Fehlen einer Übersetzung tatsächlich von Begriffen ausgeschlossen, die durch Worte oder Grammatik der anderen Sprache kodiert sind?

"Viele Jahre lang schien die Antwort auf beide Fragen negativ zu sein", heißt es dazu in der Studie. Mit Gordons Untersuchung der Piraha-Sprache könnte sich die Situation nun allerdings ändern.
Piraha: Eins, zwei und viele
Bild: Peter Gordon
Peter Gordon mit einer Piraha-Familie
In den meisten uns bekannten Sprachen existieren numerische Einheiten, die zum Basisvokabular gehören. Tatsächlich aber enthalten nicht alle Sprachen ein völlig ausgearbeitetes Zählsystem.

Piraha gehört wohl eindeutig zu Letzteren: Die Sprache kennt beispielsweise keinen Begriff für "Zahl" und Pronomen (etwa "ich" kontra "wir") existieren nur in einer Form, Singular oder Plural gibt es nicht. Auch Quantifikatoren wie "mehr", "einige", "alle" und "jeder" fehlen fast völlig.

Das Zählsystem selbst besteht lediglich aus den Worten hoi (in abfallendem Ton gesprochen) für "eins", hoi (mit steigendem Ton) für "zwei" sowie baagi oder aibai für größere Mengen, also in etwa "viele" bedeutend.
Komplexe Verbstruktur, keine Mengenvergleiche
Während Piraha eine sehr komplexe Verbstruktur aufweist, sind in dieser Sprache bestimmte vergleichende Konstruktionen nicht möglich, wie Gordon weiter berichtet.

Beispielsweise seien Fragen wie "Enthält dieser Haufen mehr Nüsse jener?" nicht möglich gewesen, da diese Konstruktion in der Piraha-Grammatik nicht existiere.

Und selbst der eindeutig scheinende Begriff hoi für "eins" wird nach Gordon eher locker gebraucht: Offenbar bedeutet er eher "ungefähr eins" - und bezieht sich damit auch auf eine "kleine Menge", deren "Prototyp" eins ist, wie der Forscher schreibt.
Einfluss auf die Wahrnehmung von Mengen?
Die große Frage, die sich Gordon angesichts dieses äußerst reduzierten Zahlensystems stellte: Können die Piraha dennoch auch weit größere Mengen wahrnehmen oder begrifflich denken bzw. können sie für uns triviale Unterscheidungen etwa zwischen vier und fünf Objekten treffen?

Um dies zu untersuchen, führte er mithilfe der beiden Linguisten Daniel und Keren Everett eine Reihe von Tests durch.
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Informationen zum Volksstamm der Piraha
Der rund 200 Menschen umfassende Stamm der Piraha lebt nach Angaben von Gordon entlang der Uferbänke des Flusses Maici im brasilianischen Amazonas-Tiefland - in kleinen Ansiedlungen, die aus zehn bis 20 Personen bestehen. Die Assimilation in die etablierte Brasilianische Kultur lehnen die Piraha ab, sie seien fast ausschließlich monolingual, beschreibt der Forscher ihre Lebensweise. Es gibt sehr wenig Kontakt mit der Außenwelt. Wie der Wissenschaftler allerdings betont, sind die Piraha keineswegs als geistig zurückgeblieben zu bezeichnen. Im Gegenteil: Ihr Jagdgeschick, Orientierungssinn sowie ihre linguistischen und Klassifizierungsfähigkeiten seien bemerkenswert, wie er schreibt.
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Die Ergebnisse im Detail
Bild: Peter Gordon
Ein Proband reiht vor sich Batterien auf -
im Rahmen eines der Tests.
Die Probanden mussten beispielsweise analog zu unterschiedlich vielen vor ihnen aufgereihten Objekten (ihnen bekannte Gegenstände wie etwa Nüsse) die gleichen Gegenstände auf ihrer Seite des Tisches in entsprechender Anzahl aufreihen. Diese Tests sollten als eine Art greifbarer Ersatz für das Zählen dienen.

Bis zu drei Gegenstände machten den erwachsenen Probanden wenig Probleme, wie Peter Gordon nun berichtet. Die Fehlerzahl stieg allerdings bei Mengen aus acht bis zehn Objekten radikal an, darüber lag die Fehlerquote sogar bei 100 Prozent.
Schwierige Zählaufgaben
Ein weiterer Versuch: Ein Gegenstand wurde in eine Dose gegeben, auf der einige Fische zu sehen waren. Der Behälter wurde danach aus dem Blickfeld der Piraha entfernt - und zwei Dosen wurden wieder hervorgeholt.

Dose Nummer zwei trug entweder einen Fisch mehr oder weniger auf dem Bild. Die Pirahas sollten nun angeben, in welcher sich der Gegenstand befand. Selbst bei vergleichsweise kleinen Mengen wie drei Fische kontra vier Fische lag die Trefferquote laut Gordon selten über 50 Prozent.

Und auch wenn die Pirahas bei Zählaufgaben Finger zur Hilfe nahmen, waren die Ergebnisse selbst bei weniger als fünf Objekten sehr häufig falsch.
Zahlen Lernen: Weniger Probleme für Kinder
Ein weiteres Ergebnis, das Gordon in einer Aussendung seiner Universität beschreibt: Erwachsenen Pirahas fiel es deutlich schwer, größere Zahlen zu "lernen", die Kinder jedoch hatten damit weniger Probleme.

Gleichzeitig hätten die Probanden die gestellten Aufgaben eindeutig verstanden, wie Gordon in der Studie betont. Und alle Teilnehmer hätten sich tatsächlich sehr angestrengt, die richtigen Antworten zu liefern.
"Vielleicht einzigartiger Fall linguistischer Determination"
Beurteilt man den Fall nun in Hinblick auf den linguistischen Determinismus, ist Gordons Deutung klar: Er geht davon aus, dass die Sprache der Piraha - zumindest in dieser Hinsicht - tatsächlich unvereinbar mit anderen Sprachen ist, die mit exakten Zahlen operieren.

Seine Schlussfolgerung: "Die Ergebnisse dieser Untersuchungen zeigen, dass das verarmte Zählsystem der Pirahas wahrhaftig ihre Fähigkeit einschränkt, exakte Quantitäten zu benennen, wenn die Mengen zwei oder drei Objekte überschreiten." Und: "Die vorliegende Studie repräsentiert einen seltenen und vielleicht einzigartigen Fall von starker linguistischer Determination."

Seine Ergebnisse zeigten, wie die sprachliche Basis die Realität des Sprechers forme, so Gordon. Unterscheidungen innerhalb einer Sprache beeinflussten demnach die Art und Weise, in der ein Individuum die Realität wahrnimmt.

Sabine Aßmann, science.ORF.at
->   Department of Biobehavioral Sciences der Columbia University
->   Informationen zur Sprache der Piraha (wikiverse.org)
->   Mehr rund um das Thema Sprache in science.ORF.at
 
 
 
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01.01.2010