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Neuartige Kieferprothese im eigenen Körper gezüchtet  
  Eine neuartige Kieferprothese hat einem 56-Jährigen die erste feste Mahlzeit seit acht Jahren ermöglicht. Kieler Forscher hatten dazu Knochenersatzmaterial im Rückenmuskel des Krebspatienten zu einem neuen Unterkiefer herangezüchtet. Der Versuch sei weltweit der erste seiner Art, erklärte Patrick Warnke von der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie der Universität Kiel am Donnerstag. Die erste feste Nahrung des Patienten war ein Wurstbrot gewesen.  
Vor acht Jahren mussten Ärzte dem Patienten einen großen Teil des Unterkiefers wegen eines Karzinoms in der Mundhöhle entfernen müssen. Es folgten Bestrahlungen.

Dem Mann war es - trotz eingesetztem Titanimplantat - nicht mehr möglich, richtig zu essen und zu kauen. Er ernährte sich überwiegend von Suppen und leichten Gerichten. Da der Leidensdruck immer größer wurde, entschloss er sich, die neue Methode der Kieler Forscher an ihm testen zu lassen, sagte Warnke.
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Der Artikel von Warnke und Kollegen ist unter dem Titel "Growth and transplantation of a custom vascularised bone graft in a man" im "Lancet" (Bd. 364, Seiten 766-770, Ausgabe vom 28. August 2004) erschienen.
->   Der Originalartikel im "Lancet"
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Gängige Methoden mit Nachteilen
Gängige Methode sei es bereits, einen menschlichen Unterkiefer aus Knochen des Wadenbeins oder des Beckens zu rekonstruieren, erläuterte Warnke.

Doch es gibt auch Nachteile: Wie der Mediziner erklärte, könne die exakte Form des Unterkiefers mit den üblichen Methoden nicht immer wiederhergestellt werden. Zudem besteht die Gefahr von Folgeerkrankungen durch die Entnahme der Ersatzknochenstücke, wie es im "Lancet" heißt.
3-D-Scans für passgenaues Modell
 
Bild: Lancet/Warnke et al.

Im Bild zu sehen: links ein dreidimensionaler CT-Scan des fehlenden Unterkiefers (zu sehen ist das ursprünglich eingesetzte Titanimplantat), rechts die errechnete passgenaue Form des neuen Implantats.

Die Kieler Mediziner gingen nun einen anderen Weg: Mit Hilfe von 3-D-Computeraufnahmen wurde für den Patienten zunächst die ideale und passgenaue Form des Ersatzunterkieferknochens entworfen.

Der 56-järige Mann verfügte nach der Erkrankung an einem Mundboden-Karzinom und darauf folgender operativer Entfernung des Unterkiefers noch über die Knochenstümpfe des Unterkiefers, wie im Bild links zu erkennen ist.
Titangitter gefüllt mit Knochenersatz
Entsprechend dem Modell wurde anschließend ein u-förmiges Titangitter angefertigt. In diese Vorlage wurde - in der Chirurgie bereits vielfach verwendet - das Knochenersatzmaterial Hydroxyl-Apatit gefüllt, mit einem Wachstumsfaktor und körpereigenem Knochenmark versehen und in den Rückenmuskel des Patienten implantiert.

Nach sieben Wochen hatte der Körper den Knochen aus eigener Kraft aufgebaut, so dass der herangezüchtete Kiefer wieder aus dem Rücken herausoperiert und dem Patienten - einschließlich einer Schicht Muskelgewebe und Blutgefäßen - implantiert werden konnte. Nur minimale Korrekturen am neuen Unterkiefer waren zuvor laut "Lancet" notwendig.
Besseres Kauen, ästhetisch zufrieden stellend
Bild: Lancet/Warnke et al.
Nach Angaben der Forscher zeigten Untersuchungen sowohl vor als auch nach der Transplantation in das Gesicht des Patienten, dass sich tatsächlich neues Knochengewebe gebildet bzw. mineralisiert hatte.

Nach der Operation könne der Patient erheblich besser kauen und sei zudem zufrieden mit dem ästhetischen Ergebnis der Operation, schreiben die Mediziner im "Lancet". Die Kontur der Kieferlinie entspreche nun in etwa der ursprünglichen Gesichtsform.

Das Bild rechts zeigt einen dreidimensionalen CT-Scan nach der Transplantation des Ersatzunterkiefers, der mithilfe von Schrauben an den Knochenstümpfen befestigt wurde.
Zahn-Implantate als nächster Schritt
Wenige Wochen nach der Operation besteht allerdings noch keine Gewissheit über ihren Erfolg. Nach Angaben von Warnke warte man auch auf Bestätigung durch weitere Fälle. Die Methode war bisher nur bei Schweinen, nicht bei Menschen angewendet worden.

In einem Jahr sollen die Nachuntersuchungen abgeschlossen und die kritische Phase vorbei sein. Die Kieler Chirurgen hoffen nun, dem 56-Jährigen im kommenden Jahr die Titan-Hülle herausnehmen zu können, um dann auf dem neuen Unterkieferknochen Zahn-Implantate aufzubauen.
->   Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie (Universität Kiel)
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01.01.2010