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Forum Alpbach: Die "Natur" der Welt von morgen  
  Wie verändern Neuro- und Computerwissenschaften das menschliche Bewusstsein? Bei den Technologiegesprächen in Alpbach setzten zwei Spitzenforscher ihrer Disziplinen bei der Beantwortung der Frage unterschiedliche Akzente. Während die Pharmakologin Susan Greenfield davon ausgeht, dass sich die Natur des "neurologisch verbesserten Menschen" grundlegend ändern wird, begründete der PC-Pionier Gordon Bell sein Lebensprojekt - die Digitalisierung und Dokumentation sämtlicher Erinnerungen - unter anderem mit "der menschlichen Natur".  
Susan Greenfield, Neurowissenschaftlerin an der Oxford University und Direktorin der ehrwürdigen Royal Institution of Great Britain, entwickelt Szenarien, wie die Technologien des 21. Jahrhunderts das Denken und Fühlen der Menschen verändern.
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"Tomorrow's people"
In einem Rundumschlag der Zukunftsszenarien streifte sie in Alpbach Lifestyle-Änderungen durch "augmented reality", neue Arbeitswelten, deren Grenzen mit der Freizeit weiter verschwimmen werden, und die Potenziale von Neuro- und Nanowissenschaft. Die rasanten Entwicklungen von Informations-, Neuro- und Gentechnik würden die Natur der "tomorrow's people", so auch die These ihres gleichnamigen Buches, erschüttern.
->   "Tomorrow's people" (Verlag Penguin)
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Neuronale Stimulierung und Simulierung
Bild: ORF/H. Zischek
Susan Greenfield
Nur ein Beispiel von Greenfield: In New York lebt ein Patient, der vom Hals abwärts komplett gelähmt ist. Ein Gehirnimplantat ermöglicht es ihm, den Cursor auf einem PC-Monitor einzig durch die Kraft seiner Gedanken zu bewegen.

Die ethischen Probleme, die aus dieser Technik - der Programmierung eines neuronalen Mikrochips - abseits therapeutischer Anwendungen erwachsen können, seien noch nicht einmal abzuschätzen.

Eine Art worst case scenario: eine neuronale Stimulierung und Simulierung von "Hier-und-Jetzt-Aktivitäten" - Menschen, die ohne den Ballast der Vergangenheit in einem künstlichen Zustand dauerhaften Glücks verharren. Die gleichen Technologien, so Greenfield, könnten aber auch in einer positiven Richtung verwendet werden - etwa für die "Stimulierung von Kreativität".
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Das Beispiel von Greenfield erinnert an die Arbeiten eines Forscherteams rund um den Grazer Informatiker Gert Pfurtscheller. In einem Gastbeitrag zu Alpbach 2003 hat er diese Arbeit beschrieben.
->   Mehr dazu in: Brain Computer Interfaces (18.8.03)
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Bildschirmkultur verdrängt Buchkultur
Für die Zukunft der Erziehung wird dies in jedem Fall einen Paradigmenwechsel bedeuten - Greenfield spricht von einer "Bildschirmmentalität", die die Buchkultur der vergangenen Jahrhunderte ablöst.

Dabei würden lesen und schreiben obsolet, da ohnehin über verschiedene technische Interfaces "alle Fakten für alle zugänglich" seien. Die Art, wie wir schon heute das Internet nutzen - umgeben von Bildschirmen, rasanten Informationen, gleichsam immer wach und interaktiv, Knotenpunkte virtueller Netzwerke - sei dafür ein Modell.

Das Wesen dieser "screen-mentality" sieht Greenfield zusammengefasst in der Aussage des Journalisten und "Wired"-Mitbegründers Kevin Kelly: "Die Wahrheit wird nicht von Autoren geliefert, sondern vom Publikum zusammengesetzt."
->   Kevin Kelly
Soziale Komponente
Auch die soziale Komponente kommt bei Greenfield nicht zu kurz, gilt es doch die breiter werdende Kluft zwischen "der Generation, die mit einem Nintendo-Daumen aufwächst, und der großen Mehrheit derer, die noch nicht einmal Zugang zu Telefon haben" zu bedenken. Eines sei jedenfalls sicher, die "menschliche Natur" werde durch die technologischen Veränderungen fundamental geändert.
->   Susan Greenfield, Oxford University
My LifeBits: Lebens-Selbstdokumentation
Auf diese, die menschliche Natur, berief sich auch Gordon Bell, in einem Nebensatz seines Referats. Der Computer- und Internetpionier Bell forscht derzeit am Bay Area Research Center von Microsoft.

Der Öffentlichkeit bekannt ist er spätestens seit zwei Jahren als Proponent des Projekts "My LifeBits". Dabei geht er in einer Art "Autopilotprojekt" einer anderen Zukunftsvision nach: der Speicherung und Archivierung sämtlicher Lebensäußerungen eines Individuums.
Ein Terabyte für ein Leben
Bild: ORF/H. Zischek
Gordon Bell
Gordon Bell digitalisiert die kompletten Erinnerungen eines Menschen, soweit sie digitalisierbar sind (und er geht davon aus, dass dies der Großteil ist), und arbeitet auf eine lückenlose Lebensdokumentation hin: Bilder, Töne, Videos, Websites, E-Mails, Tagebucheinträge, TV-Sendungen, Telefongespräche und noch viel mehr werden archiviert.

Ein Terabyte - 1.000 Gigabyte - Speicherkapazität würden ausreichen, um das Leben auf diese Weise festzuhalten, so die These von Bell. Da gehen sich schon durchschnittlich 100 E-Mails täglich oder ein Buch alle zehn Tage aus.
->   My LifeBits
Dinge sammeln ist natürlich
Warum dieses Bemühen, das für manche wohl eher eine Horrorvision als ein hoffnungsfrohes Zukunftsprojekt darstellt? "Als Technologe", so antwortet Bell, "weil wir es können". Ein positivistisches Argument, das einem zweiten um nichts nachsteht: "Weil es bereits geschieht. Alle, die mit der Festplatte eines Computers aufwachsen, sind bereits Teil dieser Lebensarchivierung."

Und schließlich und endlich liege es auch in der menschlichen Natur "Dinge zu sammeln". Wer weiß, ob man nicht irgendetwas später wieder braucht, so die Motivation Bells, für die er die komplexesten Digitalisierungstechniken, Vernetzungssysteme und Bezeichnungsmodi ersinnt. Andere Erklärungsansätze - etwa psychologische - wurden nicht geboten.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at
->   Forum Alpbach
->   Mehr zu Alpbach 2004 in science.ORF.at
 
 
 
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01.01.2010