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Netzwerkanalyse: Macht ist robust und anpassungsfähig  
  Die Netzwerkanalyse ist eine noch relativ junge Methode der Sozialwissenschaft, um Systeme verflochtener Beziehungen zu beschreiben. Durch ihre Brille betrachtet ist "die Macht" als soziales Phänomen intelligent, robust und anpassungsfähig, schreibt der Experte Harald Katzmair in einem Gastbeitrag. Anlass ist ein Symposion im Rahmen der "Ars Electronica" in Linz.  
Im Netzwerk der Macht
Von Harald Katzmair

71.726 Personen - so groß ist das von FAS.research erfasste Elitennetzwerk Österreichs. Den größten Anteil daran machen Unternehmer (rund 30.000) und Ärzte sowie Beschäftigte im Gesundheitswesen (knapp 22.000) aus, der Rest setzt sich unter anderem zusammen aus Mitgliedern privater Stiftungen, Angestellten und Inhabern von Medienunternehmen sowie aus diverser Lokalprominenz.

Die Zahl ist aber nur ein Teil einer in Europa noch relativ unbekannten Methode. Mit der "Sozialen Netzwerkanalyse" können gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Phänomene nicht nur quantifiziert, sondern auch in ihren Dynamiken visualisiert werden.
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In USA bereits im Kanon der Sozialforschung
Die Netzwerkanalyse ist eine wissenschaftliche Methode, um komplexe Systeme verflochtener Beziehungen präzise zu erfassen und exakt zu beschreiben. Ihre Wurzeln reichen zurück bis in die 1930er Jahre, als sich die Soziometrie mit Kooperationsstrukturen in kleinen Gruppen beschäftigte. In den USA konnte sich die Netzwerkanalyse bereits im Kanon angewandter Sozialforschung etablieren, nun setzt sie sich auch langsam in Europa durch.
->   Weitere Informationen (FAS.research )
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Auf die Kombination kommt es an
Um verstehen zu können, wie mit Hilfe der Netzwerkanalyse ein neues Verständnis von Macht entsteht, müssen zuerst ihre Grundannahmen klar sein: "Netzwerke" bezeichnen als Begriff besondere Beziehungen, die etwas erst zu dem machen, was es ist.

So beruht etwa die Wirksamkeit eines Medikaments auf seinen molekularen Bestandteilen und der besonderen Konfiguration, in der sie mit einander kombiniert sind. Ausschlaggebend sind also nicht nur die einzelnen Ingredienzien, sondern mindestens ebenso stark die besondere Stellung der Bausteine zu einander.
Mosaik an Einzelplayern formt Netzwerk der Macht
Das Bild lässt sich - rein netzwerkanalytisch - auf die Gesellschaft und die ihr eingeschriebenen Machtstrukturen übertragen. Es kommt nicht nur darauf an zu wissen, wer die Einzelpersonen oder Organisationen mit Einfluss sind. Das wahre Ausmaß der Macht wird erst sichtbar, wenn sie zu einander in Beziehung gesetzt werden.

Plötzlich entsteht aus einem Mosaik an Einzelplayern das Bild eines eng verwobenen Netzwerks der Macht, dessen Mitglieder nicht nur individuell bedeutsam sind, sondern die durch ihre Einbettung in andere wichtige Gruppen weiteren Einfluss dazu gewinnen.
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Symposion in Linz
Ab 1. September steht Linz für zwei Tage im Zeichen der Netzwerkanalyse. Über den Zusammenhang zwischen Netzwerken und Macht sowie Wirtschaft, Kunst und Innovation wird ebenso diskutiert wie über die verschiedenen Visualisierungsmöglichkeiten und deren Einsetzbarkeit zur Kommunikation komplexer Zusammenhänge.
->   Mehr dazu (Ars Electronica)
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Macht ist nicht dumm
Durch den speziellen Blickwinkel der Netzwerkanalyse lassen sich Erkenntnisse über das Wesen der Macht gewinnen, aufgrund derer man tradierte Vorurteile endgültig über Bord werfen muss.

So zeigt sich eindeutig, dass Macht nicht, wie es lange hieß, träge und dekadent ist und schon gar nicht auf eine abgeschlossene Bourgeoisie beschränkt. Macht ist auch nicht unproduktiv und vor allem ist sie nicht dumm.
Robust und anpassungsfähig zugleich
Im Gegenteil: Vom strukturellen Blickwinkel betrachtet zeichnen sich die Netzwerke der Macht durch hohe Effizienz und Robustheit aus. Gleichzeitig sind sie höchst anpassungsfähig und jederzeit bereit, neue Verbindungen zu knüpfen.

Sie bilden ein gesellschaftliches, politisches und wirtschaftliches Zentrum, das von einem Zustand des ständigen Ungleichgewichts lebt: Als Magnet für soziale Energien von außen (schließlich möchte fast jede(r) zu den Mächtigen gehören) kann es Ressourcen der Peripherie absaugen und dadurch ständig wachsen.
Kurze Kommunikationswege ...
Was heißt das aber konkret? Wenn ein Manager, der in drei Aufsichtsräten sitzt, mit einem Kollegen im vierten Gremium Kontakt aufnehmen will, kann er das ohne großen Aufwand tun. Die innersten Machtzirkel sind so eng mit einander vernetzt, dass über maximal zwei Schritte jeder mit jedem verbunden ist.

Die in der Netzwerkanalyse "Hubs" genannten Key-Player bilden Oligopole, wodurch die Kommunikationswege extrem kurz werden. Eine hohe Anzahl "gemeinsamer Dritter" sorgt für die nötige Stabilität des Netzwerks.
... ohne Verständigungsschwierigkeiten
Darüber hinaus trägt eine gemeinsame Kultur zur Robustheit der Verlinkungen bei: Wenn ein Manager einen Chefarzt und einen Spitzenpolitiker trifft, dann finden die Akteure schnell zu einer gemeinsamen Sprache.

Es gibt - im Gegensatz zur Kommunikation in der Peripherie - keine Verständigungsschwierigkeiten. Und wer sich gut versteht, kann auch mit wenigen Worten Geschäfte anbahnen.
Sogwirkung lässt Machtzentren weiter wachsen
Untersucht man die Unternehmenslandschaft Österreichs netzwerkanalytisch, dann kann man die Sogwirkung des Zentrums klar nachweisen. Es zeigt sich nämlich, dass nur zehn Prozent der Unternehmen mehr Aufmerksamkeit von anderen bekommen als sie selbst an andere weitergeben.

Solange diese Dynamik funktioniert und das Ungleichgewicht zwischen Zentrum und Peripherie aufrecht erhalten bleibt, werden die Machtzentren immer weiter wachsen. Die Netzwerkanalyse zeigt, dass sie erst dann implodieren, wenn die Sogbewegung etwa durch das Entstehen neuer Zentren zum Erliegen kommt.
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Über den Autor
Harald Katzmair ist Geschäftsführer und wissenschaftlicher Leiter von FAS.research, einer auf Netzwerkanalyse spezialisierten Forschungsgesellschaft, Soziologe, Philosoph und Ornithologe sowie als Lehrbeauftragter an diversen Universitäten tätig.
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01.01.2010